Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 44

training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
05_2019
Workshop mit allen Teammitgliedern
gesprochen zu haben? Wie viele ver-
stehen konsequent das Gesamtteam als
Auftraggeber? Das ist bisweilen müh-
sam, aber wenn nicht alle den Berater
als Anwalt ihrer Interessen ansehen,
berät man nicht das Team.
• Im Organisationsentwicklungskontext
ist das Gesamtunternehmen der Auf-
traggeber. Da das Gesamtunternehmen
nicht sprechen kann, wird Beratung
ganz leicht und ganz schnell zum Opti-
mierer lokaler Rationalitäten. Jeder Be-
reich hat dann so seine „eigenen“ Bera-
ter. Dagegen wäre nichts einzuwenden,
wenn alle Berater ihrerseits die Kom-
munikations- und Entscheidungsmus-
ter der Gesamtorganisation im Blick
haben oder in den Blick bekommen
wollen. Dazu brauchen sie eine Heuris-
tik, die genau diese Muster erlaubt zu
beschreiben, Erklärungen anzufertigen,
die vermeintliche Irrationalitäten deu-
ten und auf Dysfunktionalitäten hinzu-
weisen. Jedes Denken in richtig/falsch
oder eine Orientierung an einem ver-
meintlich guten Organisationsmodell
drängt die Seiten, die sich nicht darin
wiederfinden, in den Untergrund.
Allparteilichkeit ist weder theoretisch
noch praktisch leicht zu haben und
braucht auf Beraterseite eine unerschüt-
terliche Immunität gegen Instrumenta-
lisierungsversuche. Der Berater braucht
eine seismografische Wahrnehmung
dafür, wenn die Instrumentalisierung
subtil geschieht oder versucht wird. Die
Akzeptanz aller Kräfte braucht auch eine
Akzeptanz aller Kräfte in einem Selbst.
Auch das muss erarbeitet sein.
7 Ohne Gefühle läuft nichts!
Einer der wirkmächtigsten Mythen un-
serer Kultur ist, dass Verhalten und Ent-
scheidungen durch die Rationalität, den
Verstand, das Denken, die Vernunft kal-
kuliert und gesteuert werden. Dabei kann
jeder schon aus eigener Erfahrung wis-
sen, dass das Unsinn ist: Was wird nicht
alles …
• vermieden aus Angst
• erstrebt aus Gier und Eifersucht
• unterbunden aus Schuld
• untersagt aus Furcht
• verfolgt aus Zorn und Wut
• erduldet aus Liebe
• verleugnet aus Scham
• geglaubt aus Unsicherheit
• ertragen aus Stolz
• abgelehnt aus Unterlegenheit
• fokussiert aus Eitelkeit
• bekämpft aus Minderwertigkeit
• verzögert aus Vorsicht
• abgelehnt aus Kränkung
• angestrebt aus Begeisterung
• gut gemacht aus Freude
• übertrieben aus Leidenschaft
• genossen aus Lust?
Weil das so einfach zu wissen ist, kommt
keine Beratung, die etwas auf sich hält
(egal ob Coaching, Team- oder Organi-
sationsberatung), ohne Kompetenz im
Umgang mit Gefühlen aus. Wer profes-
sionelle Argumente sucht oder braucht,
der findet derzeit in den Neurowissen-
schaften eine Unmenge Belege dafür, dass
sich ohne eine Aktivierung von Gefühlen
keine synaptischen Strukturen im limbi-
schen System (= emotionsregulierender
Teil im Gehirn) verändern können. Wer
über Gefühle spricht, aber keine dabei
spürt und erlebt, kann 20 Jahre über
Ängste sprechen, ohne dass sich an die-
sen Ängsten etwas ändern wird. Mehr
dazu steht im neuesten Buch von Prof.
Dr. Gerhard Roth und Alicia Ryba, das
den Titel „Coaching und Beratung in der
Praxis“ trägt und bei Klett-Cotta (2019)
erschienen ist.
Das Dilemma bei der Angelegenheit ist:
Wer vor den eigenen Ängsten (und an-
deren Gefühlen) Angst hat, tut sich nicht
so leicht, sich auf diese Gefühle über-
haupt einzulassen. Schon aus diesem
Grund brauchen Menschen sowie Teams
und Organisationen, die auf Menschen
angewiesen sind, Unterstützung durch
Berater, die Gefühle mögen und wichtig
finden. Worin besteht nun diese berate-
rische Kompetenz? Sie hat in jedem Fall
zwei Aspekte: Der eine Aspekt besteht im
Umgang mit den eigenen Gefühlen und
der andere im Umgang mit den Gefühlen
beim Kunden.
Es ist wichtig, Gefühle als das (!) we-
sentliche menschliche Resonanzorgan
zu verstehen. Gefühle koppeln uns wahr-
nehmungsseitig an die Welt. Was Gefühle
hervorruft, wird zu unserer Umwelt, also
in gewisser Weise Teil unseres Lebens.
Personen und ihre Absichten, Teams und
ihre Beziehungsmuster, Organisationen
und ihre Entscheidungsmuster sind ge-
koppelt über Gefühle. Daher benötigen
Berater zuallererst selbst einen umfassen-
den Zugang zu den eigenen Emotionen,
damit sie dem Kunden die differenzierte
Resonanz zur Verfügung stellen können,
die es braucht, um zu günstigen Interven-
tionen zu kommen. Zugang zu den eige-
nen Gefühlen ist etwas anderes, als diese
Gefühle zu haben und auszuagieren.
Zugang bedeutet, Gefühle unterscheiden
zu können, die eigenen Zwecken dienen
und die eine Resonanz auf den Kunden
sind. Zugang bedeutet, die Gefühle nicht
zu bewerten in gute und schlechte, son-
dern jedes Gefühl willkommen zu hei-
ßen, gerade auch unangenehme. Zugang
heißt, dem anderen nicht die „Schuld“ an
den eigenen (unangenehmen wie ange-
nehmen) Gefühlen zu geben, sondern ein
Gefühl als Antwort auf unbewusste Mo-
tive zu deuten. Erst dann werden Gefühle
zu Indikatoren von Mustern beim Coa-
chee, beim Team, bei der Organisation.
Man „erspürt“ in gewisser Weise, wann
und wo der Kunde sich seiner Möglich-
keiten beraubt, welche Alternativen er
ausschließt und welche Gefühle gesucht
und vermieden werden.
All diese Wahrnehmungen braucht der
Berater, um den Kunden auf blinde Fle-
cken aufmerksam zu machen. Ebenso
braucht es die Gefühle beim Berater,
um „ein Gefühl dafür zu bekommen“,
was die „eigentlichen“ (= emotionalen)
Gründe für Entscheidungen, Verhaltens-
weisen und Konflikte beim Kunden sind.
Wenn es wahr ist, dass Mitarbeiter aus
Ängsten heraus Veränderungen vermei-
den, hinauszögern und bekämpfen, dann
muss Beratung Unterstützung für das
Tolerieren von Ängsten anbieten (und
nicht versuchen, Begeisterungsstürme
zu wecken). Wenn es wahr ist, dass
Führungskräfte aus Unsicherheit, Scham
und Schuld wichtige Entscheidungen vor
sich herschieben, dann braucht es Unter-
stützung im Umgang mit Unsicherheit,
Scham und Schuld (statt Kommunikati-
onsschulungen). Wenn es wahr ist, dass
Gremien sich um die Eitelkeit und Kränk-
barkeit von Schlüsselpersonen herum or-
ganisieren, dann brauchen die Betroffe-
nen Unterstützung, besser mit ihrer nar-
zisstischen Not umzugehen (und nicht
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