Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 46

training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
05_2019
R
vorzusorgen, braucht eine interne Bera-
tung intensiven Austausch und Kontakt
über den Tellerrand der eigenen Orga-
nisation hinaus!
• Wie viele eigene Bewertungen des Kun-
den sind vorab im Spiel („Unsere Füh-
rungskräfte müssten mal …!“)? Jede
solche wertende Haltung erschwert
Beratung. Ist sie unbewusst oder hält
man sie für wahr, endet die Beratung,
bevor sie angefangen hat. Stattdessen
beginnen eine Schulung, (Nachhilfe-)
Unterricht und Verbesserungsversu-
che! Das ist meist ebenso sinnlos, wie
es frustrierend ist.
• Oft ist die interne Beratung auf Lernen
und auf Änderungen des Kunden fi-
xiert. Es gilt aber immer auch den Blick
auf das zu haben, was erhaltungswür-
dig ist.
• Eine nicht unerhebliche Gefährdung
besteht darin, dass manches beim
Kunden nicht infrage gestellt wird,
weil man sich damit selbst infrage
stellen würde. So eine einfache Frage
wie „Warum machen Sie diesen Miss-
stand bei unserem Vorstand nicht zum
Thema?“ kommt natürlich schwerer
über die Lippen, wenn man selbst die-
sen Missstand bislang nicht angespro-
chen hat.
• Ungünstige latente und implizite Re-
geln der Gesamtorganisation können
in ihrer Schädlichkeit für den Kunden
oft nicht thematisiert werden, da die
interne Beratung diese Dysfunktio-
nalität nicht so leicht bemerkt. Der
Grund: Diese Regeln gelten ja auch für
sie selbst. Man schwimmt im gleichen
Wasser und hat so auch immer Vor­
annahmen darüber, was veränderbar
ist und was nicht.
Demgegenüber stehen aber auch deutli-
che Nutzenpotenziale, die interne Bera-
ter im Gegensatz zu externen Beratern
haben:
• Die interne Beratung hat mehr Mög-
lichkeiten zu wissen, welche Schnitt-
stellenpartner in der Organisation mit
dem ratsuchenden Mitarbeiter Schwie-
rigkeiten haben. Externe brauchen da
viele Interviewstunden oder wissen das
gar nicht. Interne sind im Vorteil, wenn
es darum geht, Themen zu identifizie-
ren, die der Ratsuchende gern vermei-
den würde.
• Interne Beratung weiß in der Regel sehr
gut, womit man sich in der Organisa-
tion wirklich gefährdet, und ist daher
nicht so leicht bei der Hand, naive
Vorschläge zu machen. Auch ist sie
weniger in Gefahr, etwas besprechen
zu wollen, was unbesprochen bleiben
muss, wenn man die Flexibilität und
den Handlungsspielraum erhalten will.
Manche Tabus müssen tabu bleiben,
wenn sie funktionieren sollen.
• Die Kenntnis der Abläufe, Prozesse,
Strukturen ist für die interne Beratung
nützlich, wenn man sie gebraucht, um
zu verstehen, wo der Kunde überange-
passt ist oder etwas nicht infrage stellt,
was zum Thema gemacht werden
könnte! Wo sind blinde Flecken des
Kunden im Hinblick auf seine Schnitt-
stellenstrukturen? Was wird durch ihn
zu wenig oder zu viel abgestimmt? Wo
fehlen ihm Allianzen, Loyalitäten und
Netzwerke?
• Und nicht zuletzt hat die interne Be-
ratung natürlich genaue Kenntnis der
informellen Seite der Organisation.
Diesen Hintergrund kann man in vie-
ler Hinsicht nutzen, um den Kunden zu
verstehen, zu konfrontieren oder seine
Problemstellung wie seine Lösungs-
wege zu hinterfragen.
In Summe halten sich Vor- und Nachteile
die Waage. Schon aus diesem Grund ist
es bisweilen eine sehr gute Idee, wenn
externe Berater und interne Berater zu-
sammenarbeiten. Das setzt allerdings ein
gemeinsames Beratungsverständnis vo­
raus. Auch braucht es eine Orientierung,
wann man als Interner auf keinen Fall
aktiv werden darf.
Das sind meist die Fälle, wenn man die
gerade beschriebenen Gefährdungen als
gegeben ansehen muss. Die Ansprüche
an persönliche Unabhängigkeit, Zivil-
courage, Kritikfähigkeit, Standing und
Beziehungskompetenz sind beileibe nicht
geringer als bei externer Beratung. Daher
brauchen interne Berater durchaus eine
umfassende Ausbildung, wenn man sich
nicht verheizen und missbrauchen lassen
möchte. Die Sorgfalt, mit der darauf ge-
achtet werden muss, dass wirklich eine
Beratungsbeziehung entsteht und nicht
nur kollegiales Setting (in dem dann
schnell obige Gefährdungen greifen), ist
nicht eben klein.
9 Beratung muss
verunsichern
Wie entsteht Sicherheit für Menschen,
Teams oder Organisationen? Sie entsteht
dadurch, dass die jeweiligen Systeme
aus der Unendlichkeit der Möglichkei-
ten, die sie in der Welt vorfinden, einige
auswählen und diese als verbindlich an-
sehen. Schon unsere menschliche Wahr-
nehmung tut das, indem sie sich auf ein
bestimmtes Frequenzband fürs Hören
oder einen bestimmten Bereich der Wel-
lenlänge fürs Sehen beschränkt. Anschlie-
ßend denkt man, dass die Welt so ist, wie
man sie hört und sieht. Aber Fledermäuse
hören und Adler sehen anderes!
Psychische Sicherheit, Verbindlichkeiten
in Teams und Wahrheiten in Organisati-
onen beruhen also auf Setzungen und im
selben Moment auf Teilblindheit. Diese
Setzungen sind daher immer kritisierbar
(„Es könnte auch anders sein!“). Daher
kann es auf der Welt – also auch in Teams
oder Organisationen – kaum „Gesamt-
konsens“ geben, da dann alle das Gleiche
ausblenden müssten. Für Teams ist dies
als Problem unter dem Begriff „Group
think“ gut erforscht. Zugleich ergibt sich
aus diesem Gedankengang, dass man mit
jeder gewählten Form der Sicherheit, der
Einigkeit, der Wahrheit – wegen der mit
ihr verbundenen Teilblindheit – immer
auch ein Risiko eingeht. Es könnte ja
sein, dass genau das ausgeblendet wird,
was fürs Überleben, für das Glück, für
den Erfolg, für das Gelingen, für die Ver-
ständigung, für die passende Entschei-
dung wichtig wäre.
Genau hier setzt Beratung an. Sie stellt
die Setzungen in Frage, die der Kunde
nutzt, um Klarheit, Sicherheit und Orien-
tierung zu erlangen. Wenn es nur darum
geht, das zu verbessern, was innerhalb
dieser Setzungen des Kunden möglich ist,
dann ist das (möglicherweise) eine sinn-
volle Optimierung – aber keine Beratung.
Optimierungen verändern nicht die Dy-
namik des Systems! Beratung (in meinem
Sinn) ermöglicht eine Veränderung von
einem Ordnungszustand hin zu einem
anderen Ordnungszustand. Und zwi-
schen diesen beiden Zuständen liegt un-
tilgbar die Unsicherheit. Es braucht keine
Beratung für Feststehendes: Beratung für
einen Change der Schwerkraft oder die
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