Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 48

training und coaching
48
wirtschaft + weiterbildung
05_2019
R
nutzt das Verabschieden alter, ungünsti-
ger Muster nicht wirklich etwas. Was sind
die Kompetenzen, die Kunden brauchen,
um etwas Altes loslassen zu können,
etwas anderes auszuprobieren und dann
das Neue entweder beizubehalten oder
zum Alten zurückzukehren oder noch-
mals etwas anderes zu versuchen?
Die Antwort darauf nimmt Bezug zu un-
serem metatheoretischen Konzept der
Veränderung. Es geht davon aus, dass
Psychodynamik, Teamdynamik und
Organisationsdynamik kontinuierliche
Entscheidungsprozesse sind. Personen,
Teams und Organisationen entscheiden
im Grunde in jedem Moment, wer sie
sind, was sie tun, was sie wollen. Das
Gelingen dieser permanent sich erhalten-
den, dynamischen Stabilität hängt we-
sentlich von folgenden drei Faktoren ab:
• Was steht überhaupt zu Wahl? Oder
– genauer – welche Alternativen kom-
men aus Sicht der Person, des Teams
oder der Organisation als Grundlage
für Entscheidungen überhaupt in Be-
tracht? Wenn etwas gleich gar nicht ins
Kalkül gezogen wird, kann man sich
weder dafür noch dagegen entschei-
den. Je ärmer der Alternativenraum,
desto wahrscheinlicher ist es, dass
suboptimale Entscheidungen getrof-
fen werden. Je chaotischer, beliebiger,
mehr von außen herangetragen die Al-
ternativen sind, desto weniger haben
sie mit der Person, dem Team oder der
Organisation zu tun, die wählt. Passen
also die Alternativen zum Kunden oder
kommen sie ins Spiel, weil es Mode ist,
andere das gut finden? Ein erstes Krite-
rium für das günstige Gestalten einer
möglichen Zukunft wäre also, dass die
Alternativen etwas Eigenes sind. Viele
Personen, Teams und Organisationen
wollen das, was andere wollen. In einer
Welt der Influencer ist dieser Punkt
alles andere als trivial und kann nicht
wichtig genug genommen werden. Ein
zweites Kriterium kommt dazu: Sind
die Alternativen mit eigener Energie
besetzt oder „muss“ oder „sollte“ man
das tun? Manche leben mit viel Ener-
gie falsche, fremde Ziele und andere
dümpeln mit einem passenden Ziel so
herum. Nur wenn eigene Alternativen
und eigene Kraft zusammenkommen,
entsteht Lust am Entscheiden!
• Ist der erste Schritt getan, taucht die
Folgefrage auf: Wie leicht fällt es Per-
sonen, Teams und Organisationen, sich
zwischen den selbstgewählten, attrakti-
ven Alternativen zu entscheiden? Jede
Entscheidung vernichtet Möglichkeiten
und hat Schattenseiten. Wer das nicht
will, verhungert zwischen den Heuhau-
fen. Es braucht Lust zum Entscheiden!
Ein weiteres Kriterium wäre also, dass
eine Entscheidung auch gegen etwas
getroffen werden kann. Wenn einer
Person, einem Team oder Organisation
nicht klar ist, dass bei jeder Entschei-
dung immer Nachteile in Kauf genom-
men werden und andere attraktive
Möglichkeiten ausgeschlossen werden
müssen, dann wird man versuchen, die
einzig richtige, die vernünftige, die be-
rühmte alternativlose Wahl zu treffen.
Wenn Entscheidungen „ausgerechnet“
werden, wird nichts entschieden. Die
Lust zum Entscheiden ist immer dann
getrübt, wenn man die immer mögliche
Kritik an der Entscheidung vermeiden
will. Wer entscheiden kann, weiß, dass
Kritik möglich ist und oft auch kommt.
Das ist die notwendige Begleiterschei-
nung allen Entscheidens. Die Lust zum
Entscheiden hängt an der Gelassenheit
gegenüber Kritik – der eigenen wie der
von anderen.
• Das führt zur dritten Frage: Welche
Kompetenzen sind vorhanden, um
damit zurechtzukommen, wenn man
entschieden hat? Wenn entschieden
wurde, braucht es Robustheit, um die
Wahl aufrechtzuerhalten, Achtsam-
keit, um Nebenfolgen zu managen,
und Weisheit, um zu erkennen, ob
ein Zeitpunkt kommt, an dem die Ent-
scheidung nachjustiert oder auch re-
vidiert werden muss. Wer weiß, dass
es immer auch anders gegangen wäre,
der ist weniger gefährdet, auf Gedeih
und Verderb – hier Verderb – an der
Entscheidung festzuhalten! Das hier
auftauchende Kriterium ist also: Wie
leicht fällt es Menschen, Bedürfnisse,
die ihnen wichtig sind, auch wieder
loszulassen? Wie leicht fällt es Teams,
Zielsetzungen, Interaktionsmuster und
Erhaltungsschemta aufzugeben? Wie
leicht fällt es Organisationen (grund-
legende) Prozesse und Strukturen in
sachlicher, sozialer und zeitlicher Di-
mension als überholt anzusehen? Wer
weiß, dass Neuentscheidung ein an-
deres Wort für Überleben in sich ver-
ändernden Umwelten ist, der identifi-
ziert sich nicht mit dem, wie es immer
schon war, sondern er darf sich ändern
und damit auch sich selbst über die
Zeit hinweg widersprechen! Loslassen
können ist somit ein weiteres Kriterium
für gelungene Beratungsarbeit.
Die hier kurz dargestellten Kompetenzen
sind in Summe die Bedingung dafür, dass
Wählen und Entscheiden leicht wird. Es
darf etwas Neues passieren, man ist nicht
auf das Alte festgelegt, jede Entscheidung
ist richtig und falsch zugleich, Entschie-
denes darf kritisiert werden und man darf
sich umentscheiden, ohne dass man das
bedauern muss.
Leichtigkeit beim Wählen ist die Kom-
petenz, die nötig ist, um Übergänge zu
bewältigen, die von einer alten, aber
unpassend gewordenen Sicherheit zu
einer neuen, besser passenden Sicher-
heit führen. Wie alles, was leicht ist, ist
es schwer, sich diese Fähigkeit zu erar-
beiten. Die Umstände, die derzeit unter
„New Work“, Digitalisierung oder Agilität
beschrieben und diskutiert werden, las-
sen allerdings die Vermutung aufkom-
men, dass es ohne eine solche Leichtig-
keit schwerer werden wird, in den kom-
menden disruptiven Zeiten zu bestehen.
Fazit:
In Summe sollte dieser zweiteilige
Artikel die Aufmerksamkeit auf Themen
richten, die aus meiner Sicht entschei-
dend dafür sind, ob Beratung optimiert,
schadet, stabilisiert oder ob sie ein Po-
tenzial hat, grundlegende Wechsel in
der Selbstorganisation des Kunden zu er-
möglichen. Berater neigen nach meiner
Beobachtung oft dazu, sich mit dem zu-
frieden zu geben, was „wirksam“ ist. Wie
die Wirksamkeit einzuordnen ist, welche
Funktion sie hat, bleibt merkwürdig un-
terbelichtet. Hauptsache, es ist irgendwie
anders geworden. So einfach sollte man
es sich nicht machen. Auch und gerade
dann, wenn man damit Erfolg hat.
Klaus Eidenschink
Hinweis:
Das Hephaistos Coaching-Cen-
trum München (Klaus Eidenschink) hat
sein integratives Beratungskonzept, die
„Metatheorie der Veränderung“, und wei-
tere Grundlagentexte veröffentlicht unter
1...,38,39,40,41,42,43,44,45,46,47 49,50,51,52,53,54,55,56,57,58,...68
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