Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 29

wirtschaft + weiterbildung
05_2019
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gen, denn schließlich handelt es sich um
ein Unternehmen. Es wird ein Unterneh-
menszweck formuliert, neudeutsch „Pur-
pose“. Ein höherer Sinn soll aus den Un-
tiefen der unvereinbaren Polaritäten und
der gegenseitigen Vorurteile herausfüh-
ren. Das ist an sich keine schlechte Idee,
kann doch ein gemeinsamer Purpose den
Wunsch der Menschen in der Organisa-
tion nach Zugehörigkeit und Gemeinsam-
keit fördern. Spätestens seit der Entwick-
lung der Logotherapie durch Viktor E.
Frankl wissen wir von der Kraft eines tie-
feren Sinns in unserem Leben. Fatal wird
der formulierte tiefere Zweck der Organi-
sation aber dann, wenn der Purpose als
Feigenblatt für die Instrumentalisierung
der Mitarbeiter im Sinne einer höheren
Leistungsdichte dient. Dafür haben die
Menschen in der Organisation ein feines
Gespür, mit der Folge des Vertrauensver-
lusts in die Führungsmannschaft und in-
nerer Kündigung.
Welche Chancen ergriffen
werden sollten
Erfolgreiche etablierte Organisationen
haben grundsätzlich die gleichen Chan-
cen wie ein Start-up, disruptive Innova-
tionen zu gestalten. Finanzielle Mittel,
ein hohes Know-how der Mitarbeiter und
genügend Kapazität für systematische
Experimente bieten etablierten Organi-
sationen möglicherweise sogar bessere
Ausgangsbedingungen. Allerdings müs-
sen dazu die Selbstblockaden und erstarr-
ten Erfolgsmuster in der Organisation und
in den Köpfen ihrer Mitglieder gelockert
werden. Der erste Schritt dazu ist eine
Haltung des Noch-nicht-Wissens, die Mit-
arbeiter wie Führungskräfte gemeinsam
gewinnen sollten. Dazu dient eine Öff-
nung nach außen, in das Organisations-
umfeld hinein. Erkundungsworkshops,
Lernreisen und Workshops gemeinsam
mit Externen vermitteln den Organisati-
onsmitgliedern neue Erkenntnisse und
erlauben Verknüpfung vorhandenen Wis-
sens mit überraschenden Einsichten.
Parallel dazu sollte als zweiter Schritt
„Achtsamkeit“ entwickelt werden. Das
bedeutet: Geöffnetes Zuhören, ohne zu
bewerten. Damit haben wir in der Regel
Schwierigkeiten, denn mit Rastern von
„gut“ und „böse“, „geeignet“, „unge-
eignet“ reduzieren wir Komplexität.
Achtsam sein heißt aber, Komplexität
zuzulassen und nicht in die Falle des vor-
schnellen Bewertens zu tappen. Sowohl
im Gespräch in den Teams als auch mit
Externen gilt es, Achtsamkeit zu kulti-
vieren. Durch das vorurteilsfreie Wahr-
nehmen dessen, was „ist“, können ja
jederzeit neue, ungewohnte Erkenntnisse
entstehen. Wir entwickeln Antennen, die
uns auch schwache Chancen und Gefah-
ren offenbaren.
Ein weiteres wichtiges Mittel zur Öffnung
stellt unsere Sprache dar. Wir sollten
vom Ausrufezeichen zum Fragezeichen
wechseln, also statt Behauptungen und
„Wahrheiten“ die explorativen Fragen
verwenden, um Neues zu entdecken.
Das wertschätzende Ausdrücken eigener
Bedürfnisse gehört ebenso dazu wie eine
wertschätzende Sprache auch und gerade
in konflikthaften Auseinandersetzungen.
Die Methoden der „Gewaltfreien Kom-
munikation“ nach Marshall Rosenberg
können ein geeignetes Konzept für das
Trainieren einer „neuen“ Sprache sein.
Durch Änderung der Sprache wird sich
langsam auch die Haltung ändern. Das ist
wichtig, um Gräben zwischen Netzwerk-
und Strukturorganisation erst gar nicht
entstehen zu lassen.
Durch solch ein verändertes (Führungs-)
Handeln kann es der Organisation gelin-
gen, wieder Zugang zu eigenen Innovati-
onsressourcen zu gewinnen. Dazu gehört
der Mut, Neues zu wagen. Erste Pilot-
gruppen tauschen sich über Problemlö-
sungen und Innovationsansätze aus. Sie
können, ausgestattet mit einem Budget
und entsprechenden Freiheiten, Muster
brechen und erste (disruptive) Innovati-
onsschritte unternehmen. Mittels Trans-
parenz von Erfolgen und Misserfolgen
werden diese Pilotteams eine Sogwirkung
für andere Menschen in der Organisation
schaffen. Grundsätzlich sollte auf solch
eine „Pull“-Wirkung gesetzt werden.
Das Pushen von Innovations-Initiativen
wird zum Gegenteil des Beabsichtigten
führen. Schließlich gilt es, vom Trai-
ning zum Lernen zu wechseln. Nicht
die Haltung „Ich sage es dir“, sondern
die Haltung „Ich will es wissen“ ist ent-
scheidend. Lernprozesse sind selbstor-
ganisiert, arbeitsintegriert und die Er-
kenntnisse werden eigenverantwortlich
von den Mitarbeitern direkt ausprobiert.
Solche Lernprozesse werden durch acht-
sames Feedback wesentlich unterstützt.
Nicht umsonst sind Feedbackprozesse ein
intensiv genutzter Bestandteil in agilen
Verfahren. Im agilen Projektmanagement
Scrum kennen wir das tägliche Standup-
Meeting, die Sprint Retroperspective, Pro-
duct Refinements. Alle diese Meetings
dienen dazu, um zu verstehen, was gut
läuft – und warum – und wo man ge-
scheitert ist – und warum.
Die ständige Suche nach Verbesserungen
führt zu neuen Einsichten, zum Lernen,
auch gemeinsam mit dem externen Kun-
den. Widersprüchlichkeiten und Polaritä-
ten sind in diesem Verständnis Ausgangs-
punkte für Innovationen. Es gibt eine
zunehmende Zahl etablierter Unterneh-
men, die auf dem Weg sind, ihre eigenen
Geschäftsmodelle anzugreifen. Wir wer-
den in Zukunft noch mehr Disruptionen
sehen, die von etablierten Unternehmen
vorangetrieben werden.
Ulrich Lenz
Hinweis:
Professor Ulrich Lenz wird mit
seiner Keynote „Coaching in disruptiven
Veränderungen – Auslaufmodell oder
neue Chancen für Coachs?“ am 17. Mai
2019 den „Coaching Kongress 2019“
r Hoch-
schule für angewandtes Management in
Ismaning bei München eröffnen – mehr
dazu auf Seite 58 in diesem Heft.
Prof. Dr. Ulrich
Lenz
lehrt an der Hoch-
schule für ange-
wandtes Manage-
ment (HAM) in den Gebieten „Change
Management“, „Coaching“ sowie
„Organisationsdesign“. Er verfügt
über langjährige internationale Füh-
rungserfahrung und berät mit dem
Schwerpunkt „Auswirkungen von Digi-
talisierung auf Führung, Organisation
und Kultur“.
Lenz Advisory Services
Malteserweg 7, 85560 Ebersberg
Tel. 0151 56120796
AUTOR
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