Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 28

personal- und organisationsentwicklung
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wirtschaft + weiterbildung
05_2019
disruptive Innovation im eigenen Unter-
nehmen nicht zuzulassen. Appelle, nun
müsse „alles“ agil werden, laufen somit
ins Leere.
2.
Agile Arbeitsformen sind nicht für
alle Aufgaben in einem Unternehmen
sinnvoll. Es gibt Geschäftsprozesse, die
nach einer festen Taktung laufen. Dazu
gehören Produktionsprozesse in der Se-
rienfertigung und Logistik. Auch Abläufe
in Hochsicherheitsorganisationen wie
Feuerwehr, Kraftwerken oder Fliegerei
sind nicht für agile Experimente geeignet.
Selbstverständlich werden auch diese Ab-
läufe ständig verbessert – zum Beispiel in
Simulatoren. Es handelt sich dabei eher
um eine kontinuierliche Weiterentwick-
lung als um eine disruptive Neuentwick-
lung.
3.
Bei den Menschen tritt ein erhöhtes
Stressempfinden auf, wenn der laute Ruf
des Managements ertönt, dass nun alle
traditionellen Muster geschleift werden
müssen. Zu starke oder zu schwache
Reaktionen auf Bedrohung sind Kennzei-
chen einer psychischen Belastung. Das
Selbstkonzept der Menschen in Organi-
sationen gerät ins Wanken. „Wir haben
den Laden erfolgreich gemacht und nun
sagt man uns, dass das alles nichts wert
ist“. Übersetzt kann man auch formulie-
ren, „… dass ich als Mensch nichts wert
bin“. In vielen Unternehmen nimmt die
Entfremdung zwischen den Menschen
und der Organisation dramatisch zu. Das
kann sich auch in Zynismus und psychi-
schen Problemen niederschlagen.
Es ist demnach keine gute Idee, unre-
flektiert die agile Revolution auszurufen,
wenn das eigene Geschäftsmodell be-
droht wird. Was liegt dann aber näher,
als den Kopf in den Sand zu stecken, auf
bisherige Erfolgsmuster zu bauen und
zu hoffen, dass der Agilitäts-Hype sich
wieder beruhigt? Geschäftsmodell-Inno-
vatoren bestrafen etablierte Organisatio-
nen gnadenlos für das Abwarten. Es ist ja
nicht so, dass Kodak die Digitalisierung
der Fotografie verschlafen hätte. Viele
Menschen in diesem Unternehmen, das
mit klassischen Rollfilmen zum Welt-
marktführer geworden war, beschäftigten
sich mit Digitalisierung. Sogar ein Start-
up der digitalen Fotografie war aufgekauft
worden. Trotzdem verschwand dieser
Weltmarktführer. Die impliziten Organi-
sationsroutinen verhinderten eine Umset-
zung der erkannten Marktveränderung in
die eigene unternehmerische Neuausrich-
tung.
Wir begegnen den heutigen Disruptionen
immer noch nach dem Muster früherer
Veränderungsprozesse. Die Komplexität
in Systemen und Märkten nimmt nicht
erst seit heute zu. Grundlegende Unter-
nehmensrestrukturierungen gab es zu
jeder Zeit. Auch wenn komplexe Systeme
sich nicht von außen steuern lassen,
waren die Wirkungen von Interventio-
nen im Change Management im Groben
vorhersehbar. Ein Programm zur Kosten-
senkung hatte sicherlich stets eine Reihe
von Neben- und Nachwirkungen, die un-
vorhersehbar waren und den nachhalti-
gen Erfolg der Initiative schmälerten. Das
generische Vorgehen zur Planung, Kom-
munikation und zum Management von
Kostensenkungen war aber stets bekannt.
Mit Mehrdeutigkeiten
klarkommen
Nimmt man die Buchstaben des Akro-
nyms „VUKA“, dann lässt sich festhalten:
volatil, unsicher und komplex waren Or-
ganisationen und ihr Umfeld auch in der
Vergangenheit. Was in der heutigen Zeit
disruptiver Umbrüche hinzugekommen
ist, ist das „A“, das für Ambiguität steht.
Darunter versteht man die Mehrdeutig-
keit von Problemen. Man kann dieses
Phänomen auch mit dem Bild zweier sich
gegenüberliegender Pole beschreiben. Be-
trachten wir den Pol der reinen Selbstor-
ganisation. Wie koordinieren sich selbst
organisierende Menschen? Hier sind
sicherlich komplexere Wirkungsweisen
am Werk wie in einem Schwarm kleiner
Fische, die sich ohne formale Führung
zusammenschließen, um wie ein großer
Fisch zu wirken. Ob reine Selbstorgani-
sation funktioniert, wissen wir nicht.
Zweifel sind angebracht. Im Zusammen-
hang mit disruptiven Innovationen ist die
Polarität zwischen Hierarchie und Netz-
werk besonders relevant. Innovatoren
leben eine ausgeprägte Agilität, Selbstor-
ganisation, Experimente und die offene
Kollaboration in Netzwerken. Um Inno-
vationen erfolgreich im Markt zu positio-
nieren, braucht es den entgegengesetzten
Pol: systematische Prozesse, Hierarchie
zur Koordinierung der Maßnahmen, Or-
ganisationsroutinen. Diese Gegensätze
sind auch unter dem Begriff „Innovator’s
dilemma“ bekannt. Solche Polaritäten
haben ein paar sperrige Eigenschaften:
• Der eine Pol kann ohne den anderen
nicht existieren. Nur durch die Unter-
scheidung zwischen Netzwerk und
Hierarchie wird ein Netzwerk über-
haupt erkennbar.
• Polaritäten umreißen eine Dilemma-
situation. Ein Dilemma ist inhärent
unlösbar. Auf einen der beide Pole zu
setzen, wird das Dilemma nicht lösen,
sondern verschlimmern.
• Wir Menschen sind den Umgang mit
Polaritäten nicht gewohnt. Gerade in
unserer heutigen effizienzgetriebenen
und komplexen Zeit wollen wir klare
Entscheidungen, wirksame Tools. Am-
biguität führt deshalb häufig zu Orien-
tierungslosigkeit.
• Auch wenn Polaritäten nicht auflösbar
sind, sind sie dennoch beständig vor-
handen. Es geht also nicht darum, Po-
laritäten aufzulösen, sondern darum,
mit ihnen zu leben und sie als Entwick-
lungschance zu begreifen.
Erfolgreiche Organisationen haben
Schwierigkeiten, mit Polarität umzuge-
hen. Unter der Bedrohung von Disruption
durch Innovatoren fällt die Führung in die
alten Muster zurück. Das zeigt sich darin,
dass der Druck auf die Mitarbeiter erhöht
wird. „Agilität“ wird mit Zeitdruck über-
setzt. Ziele werden angehoben. Um Ent-
scheidungsprozesse zu beschleunigen,
baut man Hierarchieebenen ab. Gleich-
zeitig werden Mitarbeiter zunehmend
funktionalisiert. Wenn man aber die bei-
den Pole nicht unter einen Hut bringt,
grenzen wir sie eben voneinander ab.
Es werden getrennte Organisationen ge-
schaffen. Ein Innovationslabor wird aus
dem Unternehmen ausgegliedert oder auf
der grünen Wiese neu aufgebaut. Man ar-
beitet mit Start-ups zusammen, gründet
selbst welche oder kauft sie auf. Daneben
und abgeschottet vom Innovationslabor,
läuft die klassische Hierarchie weiter.
Struktur- und Netzwerkorganisation be-
gegnen sich mit Misstrauen und Vorurtei-
len.
Der Unternehmensleitung sind diese Grä-
ben bewusst. Irgendwie müsste man die
Pole unter ein gemeinsames Dach brin-
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