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wirtschaft + weiterbildung
04_2019
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Es ist immer wieder zu beobachten, wie
viel Berater zurückhalten - oft aus Angst,
den Kunden oder den Folgeauftrag zu
verlieren. Das ist verständlich und es ist
aber auch falsch. Die persönliche Unab-
hängigkeit ist die Basis, ohne die man Be-
ratung nicht wirklich gut machen kann.
Gerade auch, wenn man ökonomisch auf
den Kunden angewiesen ist, darf man
die eigene Resonanz nicht zurückhalten.
Dabei ist es eine große Kunst, den pas-
senden Zeitpunkt, die passenden Worte,
die passende Dosierung, den passenden
Kontext zu wählen, um schwierige und
tabuisierte Themen und Phänomene an-
zusprechen.
Hierfür gibt es weder Regeln noch Re-
zepte, sondern nur das eigene Gespür
und die geschulte Wahrnehmung. Ent-
scheidend ist die innere Haltung. Berater
müssen wertschätzende, zugewandte,
freundliche Impulse mit Klarheit, Ag-
gression und Unerschrockenheit zusam-
menbringen können. Die Integration von
Liebe und Aggression – wie Freud dies
einmal nannte – ist die Voraussetzung für
eine wirksame Begegnung und das Zu-
standekommen eines veränderungsstimu-
lierenden Beratungssystems.
Wer sich oder den Kunden schont, nimmt
meist genau die Elemente und Phäno-
mene aus dem Beratungsdialog, die für
nachhaltige Veränderung notwendig
sind. Kommunikation, die nur leicht und
geschmeidig läuft, kann nicht das vom
Kunden Ausgeblendete ins Spiel bringen.
Niemand schaut gern in den Spiegel, der
zeigt, was man gerade nicht sehen will.
Kein Coachee, kein Team, keine Organi-
sation. There is no straight way to para-
dise – weder für Berater noch für deren
Kunden. Immer wird dabei vorausgesetzt,
dass sich an den Grundmustern der Kun-
den etwas ändern soll. Wichtig ist, dass
auf diese Weise beide – Kunde wie Be-
rater – frei bleiben. Man kann sich dann
auf Augenhöhe darüber verständigen, ob
man an den relevanten Mustern arbeiten
will und dies die Umstände erlauben.
Wenn man dies nicht tut, weiß man als
Kunde zumindest, was man vermeidet,
und als Berater steckt man keine Energie
in Projekte, in denen sich nichts verän-
dert.
Auf eine solche konsequente Haltung
haben Kunden eigentlich einen An-
spruch. Darum sollte man es sich als
Kunde sehr gut überlegen, Berater zu
engagieren, die Umsatzdruck haben und
die sich an die eigene Vorstellung davon,
wie etwas zu laufen hat, unter dem Label
„Kundenorientierung“ anpassen. Es gibt
kaum etwas, was Kunden so schadet, wie
falsch verstandene Orientierung an dem,
was der Kunde (vordergründig) will und
vor allem, was er (hintergründig) nicht
will. Übrigens: Wir haben den obigen
Auftrag bekommen, aber es blieb von
Anfang bis Ende ein Ritt auf der Rasier-
klinge.
5 Wenn Veränderung nicht
attraktiv ist …
Damit Menschen, Teams und Organisati-
onen sich ändern, müssen sie lernen. Es
ist gängige Meinung, dass Lernen etwas
Gutes, Wichtiges oder Notwendiges ist.
Und wenn das mal nicht so klappt, kann
man Beratung und Coaching zu Hilfe
nehmen. Da man nun feststellen kann,
dass Veränderung oft nicht attraktiv ist,
braucht die Beratungstheorie eine Erklä-
rung, wie es dazu kommt. Die gängigen
und wenig hilfreichen Buzzwords dazu
sind Widerstand, Uneinsichtigkeit, Ei-
gennutzsicherung, Borniertheit. Das sind
alles Konzepte, die eine negative Motiva-
tion voraussetzen. Das aber ist unwahr-
scheinlich, da die meisten Menschen,
Teams und Organisationen am (Über-)
Leben interessiert sind und daher zu al-
lermeist das tun, was sie für gut für sich
halten.
Hier wird eine andere Begründung für die
häufige Unattraktivität von Veränderun-
gen vorgeschlagen, die davon ausgeht,
dass sinnvolle, nachvollziehbare, wenn
auch dysfunktionale Motive im Spiel
sind. Lernen wird in Veränderungskon-
texten meist auf der Erkenntnis-, Verhal-
tens- oder Einstellungsebene angesiedelt:
Es geht also darum, etwas anderes für
wahr zu halten, neue Fertigkeiten und
nützlichere Verhaltensweisen zu prak-
tizieren oder ein besseres „Mindset“ zu
erwerben.
Spätestens bei Letzterem weiß aber dann
niemand mehr so richtig, wie man an die-
ses neue Mindset kommt und erst recht
nicht, wie man ihn in die Menschen hi-
neinbekommt, die ihn (vermeintlich)
haben sollten. Alle drei Ebenen kurven
um das, was man „Einsicht“ nennt und
folgt damit dem alten griechischen Bild
vom Menschen, dass die Vernunft es sei,
welche den Menschen und soziale Sys-
teme zu gelingendem Leben verhelfe.
Veränderung basiert in diesem Modell
auf einem besseren Zugang zur (einen)
Wahrheit. Dieses Modell wird selbstver-
ständlich mittlerweile modern aufge-
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