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wirtschaft + weiterbildung
04_2019
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ständlichkeiten entwickeln sich, weil
jeder Mensch, jedes Team, jede Organi-
sation vergisst, dass es mal Alternativen
gab, gegen die man sich entschieden hat.
Weil man vergessen hat, dass es auch
anders sein könnte (oder gegebenenfalls
auch nie anders war), sieht man nicht,
dass auch anderes möglich wäre. Viele
Manager machen diese Erfahrung, wenn
sie das Unternehmen wechseln und fest-
stellen, dass manches dort ganz anders
gelöst wird als im alten Kontext. Der
Verlust von Alternativen bedeutet aber
immer auch einen Verlust an Freiheit,
Anpassungsmöglichkeiten an andere Be-
dingungen und damit Erfolgs- und Über-
lebensfähigkeit.
Was brauchen nun Berater, um Selbst-
verständlichkeiten des Kunden als solche
zu erkennen und nicht den Rahmen der
Weltdeutung, den der Kunde benutzt,
zu übernehmen? Sie brauchen – philo-
sophisch gesprochen – eine Heuristik,
also ein Schema, welches hilft, etwas
zu entdecken. Heureka heißt griechisch:
„Ich habe es gefunden!“. Wenn nun Be-
rater entdecken sollen, was der Kunde
ausgeschlossen und verworfen hat,
dann sind Heuristiken hilfreich, die Ent-
scheidungsalternativen schematisieren.
Für Coaching etwa beispielhaft Fragen
wie: Was reflektiert jemand und was
hält er unbewusst? Was bejaht er und
was lehnt er ab? Was zeigt er von sich
und was versucht er zu verbergen? Was
lässt er sich spüren und was unterbindet
er in seinem Erleben? In Teams spielen
Fragen eine Rolle wie „Verändern oder
halten wir unser Ziel stabil? Orientieren
wir uns an den Anliegen der Organisa-
tion oder an den Wünschen der Mitarbei-
ter? Berücksichtigen wir Interessen oder
lösen wir Probleme?“ In Organisationen
sind wichtige Alternativen, ob man eher
schnell oder gründlich ist, wer mit wem
sich abstimmen muss oder nicht, ob man
regelorientiert oder situationsspezifisch
vorgeht, ob kontrolliert oder vertraut wird
und anderes mehr.
Entscheidend bei den Heuristiken der Be-
rater ist aus unserer Sicht immer, ob es
wirklich Heuristiken sind (Es könnte so
oder anders sein!) oder ob es Normierun-
gen sind (Es muss so sein!). Wer selbst
weiß, was richtig ist, führt den eigenen
blinden Fleck beim Kunden ein. Er kann
selbst nicht sehen, dass es auch anders
sein könnte. Wer dem Kunden eine be-
schreibende Heuristik anbietet, die
gleichwertige Alternativen bereithält, der
lässt die Möglichkeit bestehen, dass die
Wahl des Kunden durchaus richtig war
und sich (vielleicht!) überlebt hat oder
die Wahl des Kunden, wohin er sich ver-
ändern will, (vielleicht!) eine vorschnelle
Aufgabe von Bewährtem ist.
Der Berater kann – wenn er nicht wer-
tet – sehen, was der Kunde aus seinem
Möglichkeitsraum ausgeschlossen hat.
Erst wenn zu etwas, was praktiziert wird,
eine Alternative vorliegt, kann man zu
beiden(!) Alternativen Vor- und Nach-
teil, Funktionales und Dysfunktionales
erkunden. Wenn Beratung sieht, dass
jede Wahl immer auch Nachteile mit sich
bringt, dann kann sie dem Kunden auch
helfen zu erkennen, dass Veränderung nie
nur angenehm ist, dass man mit anderen
Entscheidungen zu Lösungen kommt, die
andere Probleme mit sich bringen. Dies
hat auch den Vorteil, dass das, was der
Berater sieht, nicht zwangsläufig als Kri-
tik an dem verstanden werden muss, was
der Kunde tut oder lässt.
Die Kunst der Beratung besteht also nicht
zuletzt darin, dass man ein hochdiffe-
renziertes Bild von den grundsätzlichen
Möglichkeiten hat, die die Welt bietet.
Dazu braucht es anspruchsvolle Theorie.
Berater werden so zu den Anwälten der
Möglichkeiten, die der Kunde noch nie
gesehen hat, nicht sehen kann oder nicht
sehen will. In allen Fällen ist der Berater
der Hüter der freien Wahl. Seine eigenen
Freiheitsgrade, die Vielfalt der Welt zu
sehen, bestimmen damit immer auch die
Möglichkeiten, die er dem Kunden zur
Verfügung stellen kann. Zugleich kommt
mit Beratung wieder die strukturelle
Überforderung ins Spiel, die allen Ent-
scheidungen eigen ist. Wenn Entscheiden
zwischen gleichwertigen (!) Alternativen
zu wählen sind, gibt es keine Sicherheit.
Darum sind Entscheidungen in gewisser
Weise unbeliebt. Wenn es mal entschie-
den ist, muss man sich keinen Kopf mehr
darum machen. Wenn Beratung also auch
darin besteht, Fässer wieder zu öffnen,
die schon mal zugenagelt waren, darf
sie nicht erwarten, immer willkommen
mit dem zu sein, was sie auf den Tisch
bringt. Aber genau das ist ihre Aufgabe:
Unsicherheitstoleranz statt Heilsverspre-
chen ist also die Devise.
4 Was Du mir tust, nutz‘ ich
für Dich!
Was nun kommt, ist eigentlich nichts
Neues. Und doch scheint es mir, als ob
es eher wieder in Vergessenheit gerät.
Es geht um die Funktion der Resonanz
der Berater auf den Kunden. Zum Start
ein Beispiel aus einem unserer Projekte:
Wir befinden uns in einer ersten Kennen-
lernsituation. Es geht um einen mögli-
chen (großen) Auftrag für ein „Culture-
Change“-Projekt. Auftraggeber ist der
Vorstand des MDAX-Unternehmens. Er ist
zusammen mit HR auch unser Gegenüber
Klaus Eidenschink.
Auf dem DBVC-Coaching-Kongress 2018 stellte er als Mitver-
fasser ein Positionspapier des Verbands zum Thema „New Work und Agilität“ vor.
Foto: Pichler