personal- und organisationsentwicklung
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wirtschaft + weiterbildung
10_2018
Was heißt das für das Lernen von
erwachsenen Menschen insgesamt – wie
muss das Lernen heute in einem
dynamischen Unternehmensumfeld
funktionieren?
Schirmer:
Wir fokussieren uns auf le-
benslanges Lernen, da wir festgestellt
haben, dass klassische Trainingsmaßnah-
men nicht mehr richtig gut fliegen. Erst
melden sich die Leute gar nicht an, dann
melden sie sich an und kommen nicht
und im schlimmsten Fall kommen sie
und gehen nach der Hälfte der Zeit. Das
heißt nicht, dass die Trainings schlecht
sind. Meist begründen das die Teilnehmer
damit, dass sie keine Zeit haben oder mit-
tendrin in einem wichtigen Projekt ste-
cken. Bei der Einführung von Office 365
haben wir deshalb den Schuh einmal um-
gedreht und bei den Mitarbeitern nachge-
fragt, wie sie begleitet werden möchten,
sobald auf ihrem Rechner die neue Soft-
ware drauf ist.
Wir haben Interviews geführt, Umfra-
gen gemacht und Personas entwickelt.
Wir sind auf etwa ein Dutzend verschie-
dene Arten gekommen, wie Leute lernen
wollen – von einem persönlichen Guide,
Userforum und Workflow-Beschreibun-
gen über Web-based- und Classroom-
Training bis hin zu Zugang auf Youtube.
Wir haben dann entschieden, wir wählen
nicht ein paar Arten aus, sondern wir ma-
chen alles. Inzwischen sind es sogar 15
verschiedene Optionen.
Sie haben also die berufliche
Weiterbildung Ihrer Belegschaft ganz
stark individualisiert?
Schirmer:
Ja, genau. Ich kann nicht nur
die Art des Lernens selbst wählen, son-
dern auch individuell meine Probleme
lösen. Egal in welchem Programm ge-
rade etwas nicht läuft, kann ich Guides
ansprechen oder direkt Tickets erstellen
oder werde schon proaktiv informiert.
Wir müssen als Organisation lernen, mit
Optionen umzugehen. In einer Hierarchie
kümmern sich darum die Chefs. Taylor
sagt, „die einen denken, die anderen
lenken“. Und jetzt können die Mitarbei-
ter plötzlich selbst aussuchen, was für
sie passt und welche Wege sie wählen.
Derartige Freiheit und dieses Vertrauen
sind für viele etwas sehr Neues – auch
wenn es im Grunde gar nicht so beson-
ders ist. Ich frage Menschen ja nur nach
ihrer Meinung und beteilige sie. Das ist
keine Rocket Science. Ich versuche die di-
gitalen Tools so zu verwenden, als ob die
Continental AG ein kleines 50-Leute-Dorf
wäre. Jeder soll die Möglichkeit haben,
weltweit mit jedem zu kommunizieren
– auch wenn das natürlich nicht immer
jeder aktiv tut. Die Leute können selbst
entscheiden, was für sie an ihrem Stand-
ort relevant ist.
Das hört sich nach einem sehr hohen
Aufwand an …
Schirmer:
Früher hätte sich das ganz
klar potenziert. Bei Office 365 haben wir
zum Beispiel zwölf Office-Programme,
vier Programm- und App-Versionen.
Außerdem gibt es die Stufen Anfänger,
Fortgeschrittene und Profis – bei Conti
in mindestens 17 Sprachen. Wenn wir
das multiplizieren, sind wir ruckzuck bei
mehreren Hundert Seiten Schulungsmate-
rial. Mit der Evergreen-IT, die sich perma-
nent erneuert, müsste man zudem dieses
Material monatlich oder halbjährlich wie-
der neu machen.
Klassisches Wissensmanagement als das
grundsätzliche Bereitstellen von Wissen
funktioniert da nicht mehr. Die Frage ist
deshalb: Wie kriegen wir unsere Mitar-
beiter dazu, dass sie wieder neugierig
Fragen stellen und selbst Lösungen ent-
wickeln oder an der richtigen Stelle su-
chen? Wir haben dafür zum Beispiel die
Rolle der Knowledge Broker eingeführt:
Das sind Wissenshändler, die nicht mehr
wie Wissensmanager das Wissen „nur“
strukturieren und irgendwo in eine Da-
tenbank packen, sondern Leute, die in-
tern und im Internet recherchieren und
das Wissen in Wikis, Blogs und Podcasts
mit Kollegen teilen.
Wenn man heute mit einer Anwendung
umzugehen lernt, ist sie vielleicht
morgen schon Schnee von gestern. Sind
diese Knowledge Broker auch eine Art
Software Scouts?
Schirmer:
Ja, das ist die Idee, dass sie
wie Journalisten Trends aufspüren und
das verständlich aufbereiten. Wir haben
inzwischen etwa 100 Knowledge Bro-
ker, die jeweils ihre eigenen Netzwerke
haben und das so weltweit sehr schnell
verbreiten. Das Ziel ist es, mit der hohen
Veränderungsdynamik neuer technischer
Systeme umzugehen. Hinzu kommt: Die
IT-Landschaft ist bisher oft sehr hierar-
chisch und IT versteht sich als „Appli-
cation Owner“. Bei Office 365, Windows
10, aber auch bei allen anderen Cloud-
Software-Anbietern können Änderungen
an einem System sofort Implikationen auf
die anderen haben. Die Programme funk-
tionieren nicht mehr unabhängig vonei-
nander. Unsere IT strebt deshalb funkti-
onsübergreifende Zusammenarbeit an.
Mit den Knowledge Brokern und Guides
können wir ganz schnell Wissen anbie-
ten – oft sogar schneller als die offiziellen
Microsoft-Kanäle.
Das hört sich so an, als ob sich diese
Dynamik gerade etwas verselbstständigt.
Viele Manager sprechen zwar davon,
Silos aufzubrechen, aber was passiert,
wenn sie das nicht mehr selbst in der
Hand haben?
Schirmer:
Selbstverständlich betrachten
das viele mit Sorge. Ein hierarchisches
System mit seinen Prozessdokumentati-
onen ist darauf ausgerichtet, Stabilität zu
erzeugen und Qualität zu sichern. Das,
was wir jetzt machen, ist extreme Ver-
netzung und Dynamisierung – und das
ist nicht mehr berechenbar. Aber eine zu
langsame Veränderung bringt auch Ge-
fahren mit sich. Die Leute müssen dann
in der Regel immer mehr arbeiten, denn
es kommt ja ständig Neues dazu und das
Ganze passiert stufenweise oder schlei-
chend. Wem das klar ist, der sieht auch
ein, dass es mit den heutigen Methoden
alleine nicht mehr geht. Wir haben uns
entschieden, alle Tools im Office-Paket
einzuführen, da wir die Optionen zen
tral nicht einschränken wollten. Die Mit-
arbeiter sollten Gelegenheit bekommen,
die neuen Werkzeuge zu nutzen. Und
wenn keiner etwas damit anfangen kann,
können wir sie immer noch abschalten.
Diese Vorgehensweise hat die IT-Organi-
sation an ihre Grenzen geführt und sie
wird hinterher nicht mehr so aussehen
wie vorher. Natürlich haben wir da viele
spannende interne Diskussionen – auch
in anderen Funktionen.
Bringt die neue Art zu arbeiten nicht
auch für die Einführung einen höheren
Workload?
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