WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 5/2018 - page 22

titelthema
22
wirtschaft + weiterbildung
05_2018
(vor allem körperliche Symptome), ein
Wechsel in Opferrollen („Mit mir kann
man es ja machen“) oder in Hilflosigkeit
sind häufig als Formen des Burn-outs zu
beobachten. Also – auch die „Sei stark“-
Strategie passt viel weniger als früher in
Organisationen.
4.
Kompensationsstrategie:
„Ich bin o. k., wenn ich es anderen
recht mache.“
Viele Menschen müssen sich als Kinder
dahin flüchten, für die Eltern da zu sein:
• für deren bewusste und unbewusste
Bedürfnisse,
• für die Beachtung ihrer Regeln, sodass
die Eltern sich als wirksam erleben und
das Gefühl von Kontrolle behalten,
• für deren psychische Stabilität, weil sie
selbst nicht wirklich geben können,
• für deren Identitätsgefühl, indem sie so
werden, wie die Eltern sie haben wol­
len.
So entsteht das grundlegende Kompen­
sationsmuster, dass man andere immer
zufriedenzustellen hat und für das Wohl­
ergehen anderer verantwortlich ist. „Mir
geht es nur gut, wenn es den anderen gut
geht“. Das führt zwangsläufig zu kon­
fliktvermeidendem Verhalten, großen
Schwierigkeiten, Nein zu sagen und Po­
sition zu beziehen. So verliert man die
eigene Kontur, das Selbstwertgefühl lei­
det genauso wie die Wirksamkeit. Letzt­
lich entsteht aber auch keine wirkliche
Nähe, da ja immer nur die Wünsche des
anderen zählen und man selbst zu kurz
kommt und auf der Strecke bleibt. Wer
mit einem solchen inneren Muster in Or­
ganisationen arbeitet, ist schon immer
unter Stress, weil man in Organisationen
geradezu von Erwartungen umstellt ist.
Das Dilemma, es vielen recht machen zu
müssen, kommt zur Blüte, wenn gänzlich
unterschiedliche Sachen von einem er­
wartet werden.
Das ist in Projekt- und Matrixorganisati­
onen die Regel. So entkommt man nicht
der Notwendigkeit, andere zu enttäu­
schen: Familie oder Chef, Anforderungen
der Zentrale oder der Region, Aufträge
des Linien- oder Projektvorgesetzten?
Niemals kann man es jedem recht ma­
chen. So entsteht ungünstiger Stress
und damit ein eindrucksvoller Boden für
Burn-out.
5.
Kompensationsstrategie: „Ich bin o.
k., wenn ich mich beeile.“
Wer von klein auf erlebt, dass die Be­
zugspersonen nie wirklich ganz da, ganz
präsent sind, sondern innerlich oder äu­
ßerlich immer mit etwas anderem, dem
Nächsten und Übernächsten, beschäftigt
sind, der wird kein Gefühl für den Augen­
blick bekommen. Er wird nicht verweilen
können und stattdessen sein Augenmerk
darauf richten, schnell zu werden. Nichts
zu verpassen, möglichst viel in ein Zeit­
fenster zu packen – das ist wichtig und
gibt einem das Gefühl, in Ordnung zu
sein. Menschen im „Beeil Dich“-Modus
sind leicht ungeduldig, neigen zu Schnell­
schüssen und zu Aktionismus. Ihr ge­
samter Lebensalltag ist an der Uhr aus­
gerichtet und nie ist genug Zeit. Dass die­
ser Verhaltens- und Erlebensstil in einer
organisationalen Welt, in der die To-dos
und E-Mails kein Ende haben, stressig ist
– wer könnte daran Zweifel haben? Man
kann in gegenwärtigen Organisationen im
Grunde nie fertig werden, egal, wie sehr
man sich beeilt. Also auch hier: Organisa­
tionen passen nicht mehr zu dieser Form
der Notbewältigung.
6.
Kompensationsstrategie: „Ich bin o.
k., wenn ich mich anstrenge.“
Mühsam, schwitzend, angestrengt – so
erleben manche Menschen die Welt von
Beginn an. Ohne Schweiß und Tränen
zählt nicht wirklich etwas. Schönes und
Leichtes fehlt, das Leben ist ein Kampf.
Neuem begegnet man mit Bedenken,
aber mit 150 Prozent Einsatz. Viele Men­
schen kennen Familien, in denen eine
solche Atmosphäre herrscht. Für Organi­
sationen sind Menschen, die so ein inne­
res Muster erworben haben, dort gefragt,
wo es um Einsatzbereitschaft geht. Auch
wenn es um Effizienz und Effektivität
nicht zum Besten steht – als Mitarbeiter
für Stellen, in denen es um das Abar­
beiten und Lasten abtragen geht, eignen
sich „Anstrengungs-Menschen“ sehr gut.
Doch solche Stellen gibt es kaum noch.
Fast bis in den letzten Winkel hat sich in
Organisationen die Anforderung durch­
gesetzt, dass am Ende nur das Ergebnis
zählt. Das aber ist für Menschen, die
ihren Beitrag daran ablesen, ob er müh­
sam und schweißtreibend war, der pure
Stress und damit „Burn-out-treibend“. Sie
finden ihren Platz nicht mehr und fühlen
sich abgehängt und nicht mehr wichtig.
So ist auch die letzte der hier gesammel­
ten Strategien zur Bewältigung von Nicht-
Okay-Gefühlen mit der Funktionslogik
gegenwärtiger Organisationen nur mehr
bedingt kompatibel. Die Passung zwi­
schen neurotischer Stabilisierung und
den Stressreizen in der Arbeitswelt ist
schlecht geworden. Daher brechen diese
Muster auch früher und schneller zusam­
men und lösen symptomatische Krisen
aus. Eine davon ist Burn-out. Die Rettung
über passendes Verhalten ist – wie oben
angedeutet – jedoch nur ein Cluster von
Varianten, um eine kompensatorische
Selbstregulation zu gewinnen. Andere
müssen sich anders behelfen.
Teil C:
Die Rettung in den
Schein
Das, was für viele zunächst ein guter
Ausweg ist – die eben geschilderten fünf
Arten, sich geschickt über Handlungsstra­
tegien an die Umwelt anzupassen -, bleibt
anderen Menschen verwehrt. Sie hatten
kein Gegenüber, welches eine klare Stra­
tegie zuließ, in dessen Gegenwart man
ablesen konnte, was sich lohnt. Es gibt
Menschen, die bekamen keine Botschaf­
ten, was zu tun ist. Sie bekamen nur Bot­
schaften, wer sie zu sein haben. Solche
Erfahrungen beeinträchtigen die Selbst­
regulation sehr viel umfassender, da der
„Eingriff“ in die eigene Psyche nicht mehr
über Verhaltensauswahl, sondern über
Einschränkung der Selbstwahrnehmung
vollzogen wird. Zwei dieser – insgesamt
sehr vielfältigen Möglichkeiten – sind
für das Thema Burn-out von besonderer
Bedeutung, weil sie – ähnlich der oben
geschilderten Strategien – einerseits sehr
wirksam sind und gleichzeitig in den ge­
genwärtigen organisationalen Verhältnis­
sen sehr viel schneller als früher in die
Krise kommen. Die beiden Selbstverleug­
nungsformen kann man mit „Ich spüre
keinen Schmerz“ und „Ich bin grandios“
überschreiben.
Ausführliche Erläuterungen dazu finden
sich in dem Buch „Psychotherapie nar­
zisstisch gestörter Patienten: Ein verhal­
tenstherapeutisch orientierter Thera­
pieansatz“ von Claas-Hinrich Lammers
und Gitta Jacob, das ihm Jahr 2014 vom
R
1...,12,13,14,15,16,17,18,19,20,21 23,24,25,26,27,28,29,30,31,32,...68
Powered by FlippingBook