WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 5/2018 - page 14

menschen
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wirtschaft + weiterbildung
05_2018
R
nicht durch die psychischen Besonderheiten der einzelnen
Mitglieder?
Simon:
Soziale Systeme entstehen immer als Problemlösungen.
Man kann daher auch von „problemdeterminierten Systemen“
sprechen. Unterschiedliche Probleme führen dann zu unter-
schiedlichen Formen sozialer Systeme. Bei Organisationen ist
das ja ziemlich offensichtlich. Durch ein Krankenhaus versucht
unsere Gesellschaft das Problem der professionellen Kranken-
behandlung zu bearbeiten, Universitäten generieren ein Wis-
sen, das ein Einzelner isoliert nicht hervorbringen könnte, Un-
ternehmen versorgen die Bevölkerung mit Produkten. Dies sind
alles Sachaufgaben, um die herum sich ganz unterschiedliche
Spielregeln bilden können. Die Variationsbreite der Antworten
auf dasselbe Problem ist groß – das sieht man beispielhaft an
den jeweils aktuellen Managementtrends.
Gemeinsamer Nenner solch sachorientierter Systeme ist, dass
sich die Mitglieder der Organisationen an deren Spielregeln
anpassen müssen, um überhaupt mitarbeiten zu können. Das
fängt bei der Auswahl des Personals an, geht über spezifische
Weiterbildungen und hört im Extremfall bei der Trennung von
Mitarbeitern auf, wenn deren Kompetenzen nicht ausreichen,
um ihre organisationale Funktion sachgemäß zu erfüllen. Das
heißt nicht, dass die Spielregeln der Organisation nicht auch
durch die spezifischen Mitarbeiter beeinflusst werden können,
aber dieser Einfluss ist begrenzt, weitgehend von der Macht-
position des Betreffenden innerhalb der Organisation abhängig
und er findet sein Ende dort, wo die sachlichen Ziele der Orga-
nisation nicht mehr erfüllt werden.
Das klingt ja erst mal ernüchternd für alle, die Einfluss
gewinnen wollen in ihrem Arbeitsfeld.
Simon:
Mag sein. Aber „realistisch“ wäre der bessere Begriff.
Jedes Mitglied einer Organisation muss im Prinzip austausch-
bar sein, sonst würde deren Überleben von dessen Wohler-
gehen abhängen. Das ist für Unternehmer meist schwer zu
schlucken. Aber wenn sie das Überleben ihres Unternehmens
sicherstellen wollen, dann müssen sie dafür sorgen, dass sie
selbst, wie jeder andere Mitarbeiter, in ihrer Funktion aus-
tauschbar bleiben oder werden. Sie müssen Spielregeln etablie-
ren, die dafür sorgen, dass keine lebenswichtige Funktion von
nur einer einzigen, unersetzbaren Person erfüllt werden kann.
Noch mal zurück zu den problemdeterminierten Systemen:
Der Bogen, den Sie in Ihrem Buch spannen, ist ja weiter
gezogen. Sie sprechen auch von personenorientierten
Systemen, um den Unterschied zu den sachorientierten
Systemen zu verdeutlichen.
Simon: Ja, da sprechen sie einen mir wichtigen Punkt an. Die
meisten Menschen machen ja ihre basalen Erfahrungen mit
und in sozialen Systemen in der Familie und der Schule. Das
sind zwei Lernfelder, denen man kaum entgehen kann. Und
daher neigen sie dazu, die dort gemachten Erfahrungen auf
andere soziale Systeme zu übertragen. Chefs werden dann gern
mit Vätern, Müttern oder Lehrern verglichen, und Kollegen mit
Geschwistern oder Mitschülern. An den Vergleichen passt, dass
die formale Beziehung zu Eltern oder Lehrern asymmetrisch
ist wie die zu Vorgesetzten und die zu Kollegen symmetrisch.
Aber trotzdem sind diese Analogien irreführend. Denn die Fa-
milie – um das plakativere Beispiel zu wählen – als problem-
determiniertes System hat ganz andere Zwecke zu erfüllen als
sachorientierte Organisationen.
In einer Familie entwickeln sich die Spielregeln der Interak-
tion und Kommunikation aufgrund personenbezogener Pro-
bleme. Ein Kind wird in eine Familie geboren und ab da ändern
sich die Spielregeln total. Nicht nur, dass die Eltern nun auch
nachts erreichbar sind, sondern die Bedürfnisse des Kindes
bestimmen, was die Eltern tun (nicht nur, aber doch in starkem
Maße). Familien sind der Ort – der einzige Ort heutzutage – wo
die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Macken des Einzelnen Thema
der Kommunikation sind. Es mag zwar Tabus geben, über die
nicht gesprochen wird, aber alles, was ein Familienmitglied
betrifft, kann im Prinzip angesprochen werden. Anders als in
einem firmeninternen Meeting kann, wenn es persönlich wird,
nicht gesagt werden: „Das gehört hier nicht her!“ Familiäre
Spielregeln werden durch die Probleme der Mitglieder organi-
siert, das heißt, es sind im Unterschied zu den sachorientierten
Organisationen personenorientierte Systeme. Und der Einzelne
ist nicht austauschbar. Man kann seinen aufmüpfigen Kindern
nicht wirklich kündigen, wenn sie sich weigern, den Rasen zu
mähen.
Ist das der Grund, warum junge Leute heute wieder heiraten
und pompöse Hochzeitsfeiern veranstalten?
Simon:
Scheint ja zunächst komisch, ist es aber meiner Mei-
nung nach nicht. Denn die Familie ist in unserer arbeitstei-
ligen Gesellschaft der einzige Ort, wo man als Mensch in seiner
Ganzheit – körperlich, psychisch und sozial – wahrgenommen
und akzeptiert wird, während man in Organisationen immer
nur selektiv aufgrund der erfüllten Funktion seinen Platz fin-
det. Und die Hochzeitsfeiern symbolisieren die erhoffte Einzig-
artigkeit in einer Welt gegenseitiger Austauschbarkeit.
Interview: Martin Pichler
Event zum Buch.
Eine gute Systemtheorie nützt den Prak-
tikern unter den PE/OE-Beratern. Deshalb will sich Fritz B.
Simon am 4. Mai 2018 in Berlin mit erfahrenen Beratern zu
einer „Formen-Fachtagung“ treffen. Auf der Bühne werden
Fritz B. Simon, Torsten Groth und Gerhard P. Krejci stehen
und über die Entwicklung systemischer Interventionen spre-
chen. Anmeldungen am besten über
formen-tagung.
Blog zum Buch.
Den Nutzen der „Formen“ will Simon auch
bereits sehr kontrovers gestritten wird.
Auf zur „Formen“-Tagung
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