wirtschaft und weiterbildung 10/2017 - page 24

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wirtschaft + weiterbildung
10_2017
titelthema
hen (noch) vielfältige Lösungsmöglich-
keiten. In der zweiten Auflage des Buchs
werden erstaunliche Beispiele von „Hoch-
leistungsorganisationen“ (Flugzeugträger,
Krankenhäuser, Feuerwehren oder Atom-
kraftwerke) geschildert, deren Achtsam-
keitsrituale durch Weick und Sutcliffe
weltberühmt wurden. In der dritten Auf-
lage ihres Buchs, die im Dezember 2016
bei Schäffer Poeschel erschien, wird zur
Abwechslung auch ein schockierendes
Beispiel für „Missmanagement des Un-
erwarteten“ vorgestellt, das bald zu den
gängigen „Geschichten“ gehören dürfte,
die Trainer in ihren Seminaren erzählen.
Das Beispiel handelt von der größten
Banken-Pleite der US-Geschichte. Wenige
Wochen nach der Lehman-Pleite im Jahr
2008 kollabierte die führende amerika-
nische Sparkasse „Washington Mutual
Bank“ (Wa Mu). In einem Notverkauf
wurde sie vom Finanzkonzern JP Morgan
Chase übernommen.
Etwa zehn Jahre vor ihrem Zusammen-
bruch gab der Wa-Mu-Vorstand das Ziel
aus, man wolle nicht nur die größte Spar-
kasse sein, sondern auch „dynamischer“
werden und bald an der Spitze der Hy-
pothekenbanken stehen. Es wurde gezielt
Baugeld an schwache Schuldner verlie-
hen, weil man ihnen hohe Zinsen und
hohe Gebühren abknöpfen konnte. Be-
reits im Jahr 2003 wurden von einem in-
ternen Risikospezialisten 40 Prozent der
Darlehen als inakzeptabel eingestuft. Die-
ser Mann wurde als lästiger Bedenken-
träger von der Teilnahme an Vorstands-
sitzungen ausgeschlossen. Der Druck,
hochmargige aber riskante Produkte zu
verkaufen, stieg weiter. Die Kreditverkäu-
fer bekamen zu hören: „Nur eine dünne
Akte ist eine gute Akte. Zu viel Papier-
kram hindert am Verkaufen.“ Wenn
Kreditnehmer eine Hypothek erhielten,
reichte oft eine mündliche Angabe über
ihr Gehalt. Belege mussten nicht vorge-
legt werden.
Das Management ignorierte im Jahr
2006 ein leichtes Absinken der Immobi-
lienpreise. Später waren die Neukunden
so klamm, dass die Dahrlehensnehmer
noch nicht einmal die erste Rate für ihr
Darlehen bezahlen konnten, aber weiter-
hin kräftig „auf Kreditkarte“ konsumier-
ten – was aufgrund einer veralteten und
lückenhaften IT keiner mitbekam. Die
Bank beschäftigte zur Jahresmitte 2008
mehr als 43.000 Mitarbeiter in über 2.200
Zweigstellen verteilt auf 15 US-Staaten.
Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar,
dass niemand im Topmanagement recht-
zeitig Sanierungsmaßnahmen eingeleitet
hat. Weick und Sutcliffe machen darauf
aufmerksam, dass es in einer Krise ty-
pisch sei, dass wegen unterschiedlicher
Interessen auch das „Besorgnisniveau“
unterschiedlich hoch sei und „Überra-
schungen“ oft an der Spitze weggebügelt
würden. Der Fall „Washington Mutual
Bank“ zeige, dass Überraschungen und
deren Verharmlosung fünf unterschiedli-
che Formen annehmen könnten:
1.
Ein Blitz aus heiterem Himmel.
Es tritt etwas auf, das man nicht erwartet
hat, zu dem kein Modell existiert und auf
dessen Eintreten nichts hindeutete. Im
Fall der „Washington Mutual Bank“ war
die Ernennung eines neuen Vorstands-
chefs, 18 Tage bevor die Bank geschlos-
sen wurde, etwas, das aus heiterem Him-
mel geschah.
Karl E. Weick ist Professor für Organisa-
tionspsychologie an der Business School
der University of Michigan und gilt als
einer der führenden Organisationsfor-
scher weltweit. Kathleen M. Sutcliffe ist
Professorin für Organisation und Unter-
nehmensführung an der Business School
der University of Michigan. Im Jahr 2001
veröffentlichten sie ihr gemeinsames
Buch „Managing the Unexpected“.
Die erste deutschsprachige Ausgabe („Das
Unerwartete managen“) erschien im Jahr
2003 bei Klett-Cotta und wurde in kurzer
Zeit zu einem Geheimtipp unter den (sys-
temischen) Organisationsberatern. Zum
ersten Mal wurde wissenschaftlich her-
ausgearbeitet, dass man sich vor Unfällen
oder Krisen am besten dadurch schützt,
dass man es aufgrund intensiver „Acht-
samkeit“ sehr früh mitbekommt, wenn
sich ein Schlamassel beginnt anzubah-
nen. Solange Probleme klein sind, beste-
Missmanagement des
Unerwarteten
RISIKOKULTUR.
Das Thema „Achtsamkeit“, dem unsere Titelgeschichte gewidmet ist,
wurde von zwei US-amerikanischen Organisationspsychologen in die Diskussion um ein
erfolgreiches Krisenmanagement eingeführt. Ihr Standardwerk ist gerade in der dritten
Auflage erschienen.
Buchtipp.
Karl E. Weick, Kathleen M.
Sutcliffe: „Das Unerwartete managen“.
Verlag Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2016,
3. Auflage, 184 Seiten, 34,95 Euro
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