wirtschaft + weiterbildung
10_2017
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„nur“ zur Verfügung (oder auch nicht).
Sie speisen sie in die Kommunikation der
Organisation ein. Die Mitarbeiter sind
also eher externe (Wahrnehmungs-)Lie-
feranten für die Organisation. In Bespre-
chungen, Workshops, E-Mails, Dokumen-
tationen und in der Kaffeeküche bringen
sie ein, was sie sehen, hören, riechen
oder schmecken. Ihre Sinneseindrücke
sind Impulse für die interne Kommuni-
kation.
Dabei muss man sich klarmachen, dass
die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit
eine psychische Fähigkeit ist. Organisa-
tionen selbst verfügen nicht über solche
Fähigkeiten. Denn Organisationen kön-
nen zwar über unterschiedliche Eindrü-
cke kommunizieren, sie können selbst
aber nicht sinnlich wahrnehmen. An
diesem Punkt sind sie auf die Fähigkeiten
ihrer Mitarbeiter angewiesen. Vor diesem
Hintergrund macht auch der neue Hype
um die individuelle Achtsamkeit Sinn.
Denn je schneller sich die Dinge verän-
dern, umso mehr sind Organisationen
darauf angewiesen, dass ihre Mitarbeiter
das, was sie wahrnehmen, in die Ent-
scheidungskommunikation einbringen.
Nur so können sie Veränderungen in
ihrem Umfeld registrieren.
Es kommt auf die (Kommuni-
kations-)Strukturen an
Doch ob und wie individuelle Wahrneh-
mung in die Kommunikation gelangt,
hängt nicht nur vom Ausmaß und der
Qualität der individuellen Achtsamkeit
ab. Es kommt darauf an, wie die Kommu-
nikations- und Entscheidungsstrukturen
im Unternehmen gestaltet sind, dass Mit-
arbeiter überhaupt etwas zur Verfügung
stellen: Wie wird aus den eingebrachten
Eindrücken im sozialen Miteinander Sinn
erarbeitet? Welche Eindrücke erscheinen
überhaupt eine Mitteilung wert? Welche
sind erlaubt, mit welchen handelt man
sich Ärger ein? Und was von all dem wird
wie vom Gegenüber aufgegriffen und in-
terpretiert?
In der Praxis wird dies aber nicht so dif-
ferenziert gesehen. Die Meinung herrscht
vor, dass der Umgang mit Unsicherheit
vor allem eine Frage der persönlichen
Kompetenz sei. Durch solche Unterstel-
lungen steigt natürlich der Druck auf den
Einzelnen. Dieser ist nun verantwortlich
für die Bewältigung der gestiegenen Un-
sicherheit. Und damit steigt auch das Po-
tenzial von Überlastungs- und Burn-out-
Erscheinungen.
Achtsamkeitsrituale helfen bei
der kollektiven Sinnerzeugung
An dieser Stelle sind die Erkenntnisse
über Hochrisikoorganisationen interes-
sant. Weil in Atomkraftwerken, Che-
mieunternehmen oder Luftfahrt selbst
kleinste Fehler vermieden werden müs-
sen, stehen diese Organisationen seit
jeher vor der Frage, wie sie eine höhere
Achtsamkeit für kleinste Unregelmäßig-
keiten entwickeln können. Sie sind also
Pioniere im Umgang mit hoher Komple-
xität, Unsicherheit und Risiken. Die be-
sonders Leistungsstarken dieser Zunft
fallen durch gezielt gestaltete kollektive
Achtsamkeitsrituale auf.
Bei sogenannten „Foreign-Object-Da-
mage-Walks“ auf amerikanischen Flug-
zeugträgern suchen zum Beispiel alle
Beteiligten (wie Unteroffiziere, Betanker,
Mechaniker, Piloten und Sicherheitsex-
perten) das Deck auf Kleinstpartikel ab.
Die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit
der Mitglieder wird auf das Hier und
Jetzt und auf potenziell riskante Abwei-
chungen gelenkt: Wo seht, hört, riecht
ihr etwas Ungewöhnliches? Gemeinsam
wird überlegt, was diese Sinneseindrücke
bedeuten können: Wie erklären wir uns,
dass hier eine Schraube liegt? Was wissen
wir (noch nicht) über die Zusammen-
hänge unserer Arbeit?
Solche kollektiven Achtsamkeitsprak-
tiken sollten sich an den fünf Prinzipien
für kollektive Achtsamkeit orientieren,
die auf Karl E. Weik und Kathleen M. Sut-
cliffe zurückgehen und die sie in ihrem
Buch „Das unerwartete Managen“ be-
schrieben haben. Diese fünf Prinzipien
für sind:
1.
Beschäftigt Euch intensiv mit kleinen
Abweichungen und Fehlern: Nutzt sie
als Fenster zum System!
2.
Interessiert Euch fur das, was im Hier
und Jetzt geschieht: Misstraut Euren
Plänen und Erfahrungen!
3.
Vermeidet vorschnelle Vereinfa-
chungen: Nutzt vielfältige Perspekti-
ven!
4.
Entwickelt Eure Fähigkeit, erfinderisch
zu sein: Bereitet Euch darauf vor, flexi-
bel auf Unerwartetes zu reagieren!
5.
Entscheidet dort, wo im Moment das
beste Wissen ist: Übt im Normalfall,
die Hierarchie auf den Kopf zu stellen
und die Entscheidungen vor Ort treffen
zu lassen.
Achtsamkeitsrituale geben nicht vor, wel-
che Befunde relevant sind und in welche
Richtung sie zu deuten sind. Vielmehr
strukturieren sie die Art und Weise, wie
Sinn im sozialen Miteinander erzeugt
wird.
Für kritische Entscheidungssituationen
bei Feuerwehreinsätzen wurde zum
Beispiel das Kommunikationsprotokoll
„STICC“ entwickelt, damit sich ein Team
schnell sein eigenes, möglichst brauch-
bares Bild der unbekannten Situation
entwerfen kann. Fünf Schritte strukturie-
ren die Kommunikation über Wahrneh-
R
High Reliability Organi-
zations.
Notfallmediziner
sind Vorbilder in Sachen
„kollektive Achtsamkeit“.