wirtschaft und weiterbildung 10/2017 - page 21

wirtschaft + weiterbildung
10_2017
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• Wie erzeugen wir ein hohes Interesse
am operativen Geschehen im Hier und
Jetzt? Was hindert uns daran?
• Wie bereiten wir uns auf Entschei-
dungen in kritischen, unerwarteten Si-
tuationen vor?
Gerade zu Beginn eines Veränderungspro-
zesses gibt es in den Leitungsteams noch
sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie
die gewünschte Kultur aussehen kann
und soll. Eine Methode, die sich in un-
serer Praxis bewährt hat, um gerade in
der Anfangszeit die „Fünf Prinzipien für
kollektive Achtsamkeit“ als Brille und
gemeinsamen Qualitätsmaßstab zu eta-
blieren, sind „Kultur-Dialoge“, die bereits
in zahlreichen Konzernen und in einigen
Berufsgenossenschaften oder im Gesund-
heitswesen angewendet werden. In Kul-
tur-Dialogen ergründen Führungskräfte
und Mitarbeitende in gemischten Teams
und in wertschätzender Atmosphäre ihre
eingespielten Muster in der Zusammen-
arbeit:
• Welche Verhaltensmuster erleben wir
in unserem Alltag?
• Nach welchen Prinzipien sind sie ge-
strickt und wofür sind sie funktional?
• Inwieweit fördern oder hindern uns
diese Muster?
Der interaktive Austausch wird unter-
stützt durch ein Kartensystem mit kon-
kreten, illustrativen Verhaltensbeschrei-
bungen, die sich an den Prinzipien für
kollektive Achtsamkeit orientieren. Mit-
hilfe eines Mehrstufenmodells werden
fünf unterschiedliche Qualitäten im Um-
gang mit Unsicherheit beschrieben – von
gleichgültig über reaktiv, regelorientiert
bis hin zu proaktiv und wertschöpfend.
Gemeinsam mit dem Unternehmen wer-
den relevante Handlungsfelder herausge-
arbeitet, von denen sich die Beteiligten
die größte Wirksamkeit versprechen. Das
kann zum Beispiel die Rolle und das Ver-
halten von Führungskräften sein, das Zu-
schreiben von Verantwortung, Verände-
rungsfähigkeit, respektvolle Beziehungen
oder der Umgang mit Standards. Vor
allem in der Anfangsphase eines Kultur-
entwicklungsprozesses leisten Kulturdia-
loge hilfreiche Dienste, um die besondere
Qualität des Organisierens kollektiver
Achtsamkeit besser zu erfassen. Später
dann wird diese „Selbstbeobachtung der
Systemfitness“ in die Alltagsroutinen als
Ritual integriert.
Umgang mit Widersprüchen
lernen
Wenn man die kollektive Achtsamkeit
entwickeln will, wird man unweigerlich
mit Widersprüchen konfrontiert, die in
der Organisation bisher vielleicht gut
verdeckt waren. Gerade zu Beginn eines
Veränderungsprozesses ist es wichtig,
sich im Führungsteam mit diesen Wider-
sprüchen auseinanderzusetzen, um dafür
geeignete Bearbeitungsformen zu finden.
Typische Fragen, die aufkommen, sind
zum Beispiel:
• Wie sorgen wir einerseits fur verbind-
liche Regeln und klare Erwartungen,
die die Arbeit erleichtern und bere-
chenbar machen? Wie fördern wir aber
zugleich den gegenwartsoffenen Wi-
derspruch zu den existierenden Regeln?
• Kollektive Achtsamkeit braucht Zeit.
Wie finden wir eine gute Balance zwi-
schen notwendigen Achtsamkeitsri-
tualen einerseits und einer effizienten
Nutzung unserer Ressourcen anderer-
seits?
• Wie fördern wir das notwendige Ver-
trauen und die Bereitschaft, offen die
eigene Meinung und auch Fehler ein-
zubringen, ohne entscheidungsunfähig
zu werden oder eine Laissez-Faire-Hal-
tung zu fördern?
Für die Beantwortung dieser Fragen gibt
es kein Richtig und kein Falsch. Vielmehr
geht es darum, sich bewusst den Fragen
zu stellen und gemeinsam zu erörtern,
welche Vorgehensweise in welchem Zu-
sammenhang am sinnvollsten erscheint
und wie ein balancierter Umgang mit den
widersprüchlichen Anforderungen ausse-
hen kann.
Eine echte Fehlerkultur als
Voraussetzung
Die Beschäftigung mit Abweichungen
setzt eine offene Fehler-Meldekultur vo-
raus. Es muss hoffähig werden, Erwar-
tungen zu enttäuschen. Mitarbeiter müs-
sen Wertschätzung erfahren, wenn sie
ihre eigene Wahrnehmung ernst nehmen,
auch wenn diese den eingespielten Kon-
ventionen widerspricht. Dafür ist es vor
allem entscheidend, was in kritischen Si-
tuationen getan wird, zum Beispiel wenn
folgenreiche Fehler oder Vorfälle passiert
sind. Denn für die Belegschaft offenbart
sich im Umgang mit diesen „Extremab-
weichungen“, wie die Dinge hier eigent-
lich laufen und diese Erfahrungen prägen
ihr künftiges Verhalten.
Um die Entwicklung einer Fehlerkul-
tur anzustoßen, haben sich sogenannte
„Musteranalysen“ als Türöffner bewährt.
Topführungskräfte eines großen Indus-
trieunternehmens hatten sich zum Bei-
spiel zum Ziel gesetzt, gemeinsam mit
den Beschäftigten konstruktiv aus uner-
warteten Ereignissen zu lernen. Bisher
wurde nach Fehlern eher einseitig nach
technischen Lösungen oder reflexhaft
nach den schuldigen Personen gesucht.
In Musteranalysen geht es darum, einen
anderen Umgang mit Fehlern zu üben –
über die Hierarchieebenen hinweg ohne
Schuldzuweisung.
Musteranalysen sind Ereignisuntersu-
chungen am Ort des Geschehens, die
nach den Prinzipien von kollektiver Acht-
samkeit aufgebaut sind. Fuhrungskräfte
und Mitarbeiter nutzen einzelne uner-
wartete Ereignisse, um in offener Atmo-
sphäre zugrunde liegende eingespielte
Verhaltensmuster im Umgang mit Un-
sicherheit und Komplexität zu unter-
suchen. Sie finden in hierarchie- und
R
Annette Gebauer
ist seit 2003
s e l b s t s t änd i ge
Organisationsbe-
raterin mit den
Beratungsschwerpunkten Corporate
Learning, High Reliability Organizing
sowie Management- und Kulturent-
wicklung. Sie promovierte am Lehr-
stuhl für Führung und Organisation
der Universität Witten/Herdecke bei
Prof. Dr. Rudolf Wimmer zum Thema
Corporate Learning.
Interventions for Corporate
Learning (ICL) GmbH,
Dr. Annette Gebauer
Choriner Straße 58, 10435 Berlin
Tel. 030 12091206
AUTORIN
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