wirtschaft und weiterbildung 10/2017 - page 20

titelthema
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wirtschaft + weiterbildung
10_2017
mungen. Das Format „STICC“ besteht aus
folgenden Schritten:
Situation.
Hier ist, wie ich die Situation
sehe ...
Task.
Das hier müssen wir aus meiner
Sicht tun ...
Intention.
Ich denke dies aus folgendem
Grund ...
Concern.
Auf diese Dinge müssen wir
meiner Meinung nach achten ...
Calibrate.
Jetzt sagt mir, was Ihr denkt:
Habe ich etwas übersehen? Wo habt Ihr
Zweifel?
Die Konstruktion von
Wirklichkeit beeinflussen
Durch Kommunikationsrituale wie STICC
wird die immer ablaufende „soziale
Konstruktion von Wirklichkeit“ nicht
dem Zufall überlassen, sondern sie wird
bewusst gestaltet. Dafür muss man wis-
sen, dass Sinn in einer Organisation oder
einem Unternehmen immer in einem
Dreischritt von Beschreiben, Erklären und
Bewerten konstruiert wird. Bestimmte Er-
eignisse werden aus dem Ereignisstrom
ausgewählt und beschrieben. Gemeinsam
suchen wir nach plausiblen Erklärungen
und bewerten diese.
Normalerweise laufen diese Schritte
einfach ab und wir einigen uns auf eine
bestimmte Sicht der Dinge, die objektiv
erscheint und unsere Erwartungen prägt.
Kollektive Achtsamkeitspraktiken wie
STICC fördern die Disziplin in emotions-
geladenen Situationen, die drei Schritte
Beschreiben, Erklären und Bewerten in
der Kommunikation stärker zu trennen
und andere Interpretationen miteinzube-
ziehen. Ziel ist es, ein facettenreicheres
Bild von der mehrdeutigen Wirklichkeit
zu erzeugen. Für die Mitglieder wird er-
fahrbar, dass es keine allgemeingültige
Wahrheit gibt, sondern das Bild von der
Realität immer vom Beobachter abhängt.
Das macht es auch leichter, verschiedene
Perspektiven zu nutzen.
Wer mehr sieht und etwas anderes sieht
als andere, muss das auch kommunizie-
ren, sei das nun in einem Meeting, einer
Skype-Konferenz oder einem Chat. In der
direkten Interaktion im Hier und Jetzt
haben Mitglieder die Möglichkeit, ihre
Eindrücke oder Empfindungen einzubrin-
gen. Im Vergleich zu den formalen Regel-
werken gibt es in der direkten Interaktion
mehr Spielraum für Interpretationen. Die
Relativität der eigenen Wahrnehmung
wird beobachtbar.
Ein Beispiel für eine Kommunikations-
routine, die nach abweichenden Wahr-
nehmungen fragt, ist die „Fünf-Minuten-
Routine“. Durch gezielte Fragen bei der
Arbeitsvorbereitung werden Mitarbeiter
aufgefordert, ihre Erwartungen gegen
den Strich zu bürsten. Das Format hat fol-
genden Ablauf:
Besonderheiten.
Was ist heute anders?
Was müssen wir beachten? Was ist/war
komisch?
„Worst Case“.
Was darf heute auf keinen
Fall schiefgehen? Was wären erste Zei-
chen, dass es schiefgeht?
Limitierungen.
Was hält uns heute davon
ab, präsent zu sein?
Rollen.
Wer macht was? Wie stimmen wir
uns ab?
In jeder direkten Interaktion liegt die
Chance für die Mitglieder, Nein zu sagen,
also Anordnungen oder Vorschriften zu
widersprechen – auch wenn das eine
(notwendige) Illoyalität gegenüber den
festgefahrenen Erwartungsstrukturen
ist. Solches Verhalten setzt aber voraus,
dass Interaktionen auch so gestaltet sind,
dass sie Erwartungsenttäuschungen und
Widerspruch zulassen und sogar aktiv
fördern. Wenn ich bei Widerspruch um
meine Karriere fürchten muss, ist es eher
unwahrscheinlich, dass ich etwas sagen
werde.
Echtzeitkommunikation wird also wich-
tiger. Die eigenen Landkarten müssen
immer wieder hinterfragt und weiterent-
wickelt werden. Ein Beispiel: Die Produk-
tion von Kinofilmen ist schwer planbar,
Filmteams sind darauf gefasst, dass stän-
dig unerwartete Dinge geschehen kön-
nen. Deshalb wird viel dafür getan, dass
das Team geteilte innere Landkarten ent-
wickelt. Die individuelle Wahrnehmung
wird ausgerichtet auf das gemeinsame
Projekt. So führen alle Abteilungen – Ko-
stüm, Beleuchtung, Kamera, Ausstattung
oder Fertigungsleitung sowie die Schau-
spieler – eine gemeinsame Leseprobe
durch. Das Drehbuch wird gelesen, so-
dass ein gemeinsames erstes Bild ent-
steht: Was ist unser gemeinsames Ziel?
Wie hängt meine Aufgabe mit denen der
anderen zusammen? Beim Filmdreh sind
dann alle Abteilungen wie Kostüm, Ka-
mera, Ausstattung etc. mit dem ersten
Regieassistenten per Headset verbunden,
um sich über den neuesten Stand der
Dinge informiert zu halten. Statt eines
einmal angefertigten big pictures entsteht
so eine „big story“, die im Tun immer
weitergesponnen wird.
Erste Schritte zu einer
Achtsamkeitskultur
Bisher wird das kollektive Sensemaking
eher dem natürlichen Driften überlas-
sen. Wie soziale Wirklichkeit erzeugt
wird, hat sich in vielen Organisationen
eher informell entwickelt. Kein Wunder
also, dass im Zusammenhang mit dem
Ruf nach mehr Achtsamkeit im gleichen
Atemzug auch meist der Wunsch nach
einer neuen Kultur geäußert wird. Für
Kulturentwicklungsprozesse ist es cha-
rakteristisch, dass sie nicht direkt qua
Anweisung, sondern nur über Bande
angestoßen werden können – durch Ver-
änderungen an den formalen Prozessen,
die sich dann wieder auf die informellen
Gepflogenheiten auswirken.
Ein erster wichtiger Schritt zur Entwick-
lung der kollektiven Achtsamkeit ist dabei
die Selbstbeobachtung der eingespielten
Muster, wie Sinn in der Zusammenarbeit
an der Nahtstelle von psychischer Wahr-
nehmung und Organisation erzeugt wird.
Die Prinzipien für kollektive Achtsamkeit
bieten dabei wertvolle Orientierung:
• Wie und in welchen Gelegenheiten be-
schäftigen wir uns mit Abweichungen?
Wie finden abweichende Wahrneh-
mungen Eingang in die Entscheidungs-
kommunikation unserer Organisation?
Wie fördern wir das?
• Wie nutzen wir die Vielfalt an Perspek-
tiven und Meinungen?
R
„Es gibt keine allgemeingültige Wahrheit. Das Bild
von der Realität hängt immer vom Beobachter ab.“
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