titelthema
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wirtschaft + weiterbildung
10_2017
fachübergreifenden Teams statt, um die
Vielfalt von Perspektiven zu nutzen.
Die Beteiligten des Ereignisses werden
wertschätzend zu ihrem Erleben oder
ihren Wahrnehmungen als „Experten
des operativen Geschehens“ befragt. Die
Befragung findet in einem „Interview-
Karussell“ statt, in dem die Schritte Be-
schreiben, Erklären und Bewerten strikt
getrennt werden. Zunächst werden die
Experten durch kleine, gemischte Teams
über ihr Erleben befragt. Jedes Team bil-
det nun eigene Hypothesen über das Ge-
schehen. Es sollen schnelle Festlegungen
vermieden und vielfältige Erklärungen für
das Geschehen entwickelt werden:
• Was haben die Beteiligten gesehen,
gehört, gefühlt und wie haben sie ihre
Eindrücke in die Kommunikation ein-
gebracht?
• Wie wurden die Impulse im Team auf-
gegriffen und verarbeitet?
• Welche Annahmen waren im Spiel?
• Wie ist man gemeinsam zu einer Ent-
scheidung gekommen?
Musteranalysen bieten zum einen An-
regungen, wie die Zusammenarbeit von
Teams verbessert werden kann und wel-
che Achtsamkeitsrituale an kritischen
Punkten sinnvoll sein können. Sie stär-
ken aber die Achtsamkeit jedes Einzelnen
für Abweichungen im Hier und Jetzt und
ermutigen dazu, sie zur Sprache zu brin-
gen. Vor allem aber haben Musteranaly-
sen einen „kollektiven Aha-Effekt“: Sie
zeigen, dass konstruktives Lernen von
Fehlern möglich und sogar erwünscht ist.
Zwei Seiten einer Medaille
Fazit:
Individuelle und kollektive Acht-
samkeit sind zwei Seiten einer Medaille.
Gerade durch eine gut aufeinander abge-
stimmte Verzahnung individueller Acht-
samkeitstrainings und die gezielte Ent-
wicklung kollektiver Achtsamkeitsprak-
tiken kann ein hoher Nutzen entstehen.
Das Gestalten der strukturellen Kopplung
von Psyche und Organisation erhöht die
Wirksamkeit von Interventionen zur Ent-
wicklung der Achtsamkeit. Wie ein wirk-
sames individuelles Achtsamkeitstraining
aussehen muss, sollte weiter erforscht
werden. Für den Umgang mit Unsicher-
heit und Komplexität braucht es indivi-
duelle Fähigkeiten, die Karl Weick „atti-
tude of wisdom“ nennt. Gemeint ist eine
Kombination aus Selbstbewusstsein und
Bescheidenheit gegenüber dem eigenen
Wissen.
Die eigene Sicht und Erfahrung wird re-
spektiert und gleichzeitig läuft mit, dass
es auch anders sein kann. Diese Fähig-
keit zur Ambivalenz kann nur bedingt
und auch nicht losgelöst vom Kontext
geschult werden. Sie beruht auf reflek-
tiertem Erfahrungswissen im Umgang mit
Komplexität in bestimmten Situationen.
Gezielte Achtsamkeitsrituale wie eine
Musteranalyse oder STICC können auch
hier eine wichtige Rolle spielen, indem
sie Mitarbeiter immer wieder mit der
Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit
der sozialen Wirklichkeit konfrontieren.
Annette Gebauer
R
Sicherheit entsteht durch Reden über das Unerwartete
Gebauer hat bei Professor Rudi Wimmer in Witten/Her-
decke promoviert. Wie nicht anders zu erwarten, hat ihr
Buch eine fundierte systemtheoretische Grundlage. Durch
ihre Zusammenarbeit mit Kathleen M. Sutcliffe und durch
ihre eigene Beratertätigkeit in deutschen Konzernen über-
zeugt das Buch zusätzlich noch mit einem hohen Praxisbe-
zug. Es gibt zahlreiche allgemein verständlich geschilderte
Strategien und Werkzeuge.
Dr. Annette Gebauer hat ein „Workbook“ mit Tools veröffentlicht, das
zeigt, wie kollektive Achtsamkeit zu einer wertvollen Ressource wird.
Fallbeispiele – zum Beispiel den „Foreign Object Damage
Walk“ auf Flugzeugträgern, die „Cold Readings“ bei der
Filmproduktion, die „Ad-hoc Teams“ zur Problemlösung bei
der Boeing-737-Produktion, die „Briefings und Debriefings“
im Luftverkehr, das „Critical Incident Reporting“, die „Staff
Rides“ zur Unfallanalyse bei Feuerwehr und Militär sowie
die Kunst der „Checklistengestaltung“ in der Produktion.
Gebauer beschreibt und erklärt viele Methoden und Instru-
mente kollektiver Achtsamkeit, die sich beim Umgang mit
dem Unerwarteten bewährt haben. Außerdem beantwortet
sie die Frage, wie eine Unternehmenskultur der organisati-
onalen Achtsamkeit entwickelt werden kann?
Es macht schon einen Unterschied, ob man Achtsamkeit
(nach einem Unfall) durch strenge Vorschriften und Kon-
trollen herbeizwingen will, oder ob man verstanden hat,
dass Sicherheit durch „Austausch über das Unerwartete“
entsteht. Im Idealfall suchen Mitarbeiter proaktiv nach
sicherheitsrelevanten Abweichungen und steigern so die
Leistungsfähigkeit.
Martin Pichler
Buchtipp.
Annette Gebauer:
„Kollektive Achtsamkeit organisieren,
Strategien und Werkzeuge für eine
proaktive Risikokultur“,
Verlag Schäffer-Poeschel, Stuttgart
2017, 368 Seiten, 49,95 Euro.