wirtschaft und weiterbildung 10/2017 - page 18

titelthema
18
wirtschaft + weiterbildung
10_2017
04.
Heute II:
Diverse Zukunfts-
szenarien werden durchgespielt,
um Gegenwart zu verstehen.
05.
Früher III:
Man verlässt sich im
Alltag auf seine Erfahrungen
aus der Vergangenheit.
06.
Heute III:
Im Alltag wird in den
Teams häufig gefragt:
„Was wäre, wenn ...?“
R
nen, die an ihn gerichteten Erwartungen
enttäuschen und sich so nicht zum Mittä-
ter des Projekts „Defeat device“ machen
müssen. Seine Karriere in der Organisa-
tion wäre dann wohl zu Ende gewesen,
aber er wäre mit sich im Reinen.
Tagtäglich lassen sich in Organisationen
ähnliche Muster beobachten, die wir hier
nicht Betrug nennen wollen, sondern Er-
wartungskonformität: Weil das Team die
Vorgaben der Vorgesetzten vor Augen hat,
konzentriert es sich darauf und übersieht,
dass die Dinge in der Realität des „Hier
und Jetzt“ eigentlich ganz anders laufen.
In Besprechungen hält man lieber den
Mund, obwohl ein Störgefühl im Bauch
grummelt. Unangenehme Informationen
werden nach oben beschönigt, niemand
soll (in seinen Erwartungen) verschreckt
werden. Und sowieso ist doch klar: Als
Bote von schlechten Nachrichten möchte
man nicht zum Schuldigen werden. Wie
oft hat man bereits erlebt, dass war-
nenden Stimmen ein Maulkorb verpasst
wurde. Wie mächtig soziale Erwartungs-
strukturen sein können und wie wenig
individuelles Training allein etwas daran
ändern kann, zeigt zum Beispiel die Eva-
luation einer Trainingsreihe zum Umgang
mit Fehlern mit insgesamt 90 Medizinstu-
denten am Asklepios Campus Hamburg:
Obwohl die Teilnehmer angaben, dass
sich ihre persönliche Einstellung und Hal-
tung im Umgang mit Fehlern deutlich ver-
ändert hatte und viel offener geworden
war, blieb die Befürchtung, dass sie in
ihrem Arbeitskontext für Fehler bestraft
werden. Der Schluss liegt nahe, dass sie
an ihrem Verhalten auf der Station trotz
Training wenig verändern werden. Ein of-
fener Umgang mit Fehlern ist dort (noch)
nicht erwünscht. Das Risiko ist zu groß,
gegen den Strom zu schwimmen.
Achtsamkeit kann nach dem US-ameri-
kanischen Achtsamkeitspapst Jon Kabat-
Zinn definiert werden als eine „auf das
Hier und Jetzt gerichtete Aufmerksam-
keit, die nicht wertend ist“. Die meisten
verstehen darunter vor allem eine psy-
chische Bewusstseinsqualität. Achtsam-
keitsprogramme wie zum Beispiel das
„Search-Inside-Yourself-Programm“ von
Google oder das an dieses Konzept an-
gelehnte Achtsamkeitstraining von SAP
zielen in der Regel auf mehr „Klarheit im
Kopf“. Die persönliche Resilienz, die per-
sönliche Wahrnehmungs- und Leistungs-
fähigkeit soll dann – auf Umwegen – auch
dem Unternehmen zugutekommen.
Unternehmen schützen sich
vor Datenflut
Aber Organisationen haben nun ein-
mal gut eingespielte Mechanismen, wie
sie sich vor zu viel Unsicherheit, vor zu
vielen Meinungen und Eindrücken, die
von außen an sie herangetragen werden,
schützen. Der Soziologe Niklas Luhmann
hat das bereits im Jahr 2000 in seinem
Buch „Organisation und Entscheidung“
beschrieben. Die Absorption von Unsi-
cherheit ist eine der wesentlichen Leis-
tungen einer Organisation. Nur durch die
rigide Selektion neuer Impulse gelingt es
Unternehmen, sich auf bestimmte Auf-
gaben zu konzentrieren und sich vor der
Datenflut zu schützen.
Streng genommen arbeitet man mit
einem individuellen Achtsamkeitstraining
in der „Außenwelt“ der Organisation.
Denn die Mitarbeiter und ihr gesteigertes
Bewusstsein sind nicht die Organisation.
In Besprechungen und Arbeitssituationen
stellen sie ihre Eindrücke, ihre Meinung,
ihre Empfindungen der Organisation
Ganz gleich ob bodenständige Mittel-
ständler oder gewinnmaximierende Kon-
zerne - viele Unternehmen leisten es sich,
ihre Mitarbeiter in Achtsamkeitsseminare
zu schicken. Man erhofft sich positive Ef-
fekte auf das psychische Wohlbefinden
eines Beschäftigten, eine bessere Resili-
enz gegenüber Stress und eine erhöhte
Aufmerksamkeit gegenüber den Verän-
derungen im Arbeitsumfeld. Achtsamkeit
erscheint wie ein Allheilmittel, um mit
der gegenwärtig erlebten Komplexität,
Vielfalt und hohen Veränderungsdynamik
besser klarzukommen.
Doch bei all dem Hype gerät schnell in
Vergessenheit, dass eine Fortbildung in
Sachen Achtsamkeit immer nur den Ein-
zelnen betrifft und deshalb nur die halbe
Miete ist, wenn man in Organisationen
etwas bewirken möchte. Unternehmen
müssen neben der individuellen Acht-
samkeit auch die kollektive Achtsamkeit
fördern. Dabei geht es darum, die Ent-
scheidungs- und Kommunikationsrouti-
nen in einer Organisation zu optimieren.
So wird sichergestellt, dass „achtsamere“
Eindrücke von Mitarbeitern auch tatsäch-
lich als wertvolle Ressource vom Manage-
ment genutzt werden.
Wahrnehmungen müssen
kommuniziert werden
Der VW-Mitarbeiter James L. wurde in
den USA im Zuge der Dieselaffäre zu
mehreren Jahren Haft verurteilt. Er sei, so
begründete es der Haftrichter, zu loyal zu
seinem Unternehmen gewesen, berichtete
die „Süddeutsche Zeitung“ am 28. August
2017. Er hätte seinen Chefs widerspre-
chen müssen oder sich weigern können,
die betrügerische Software einbauen zu
lassen. Er hätte anders entscheiden kön-
1...,8,9,10,11,12,13,14,15,16,17 19,20,21,22,23,24,25,26,27,28,...68
Powered by FlippingBook