wirtschaft und weiterbildung 1/2017 - page 33

wirtschaft + weiterbildung
01_2017
33
Aktive Kundenunterstützung lohnt sich für das Unternehmen Shirts
& Shoes. Um eine intensivere Kundenbetreuung zu erreichen,
plant die Geschäftsführung drei Maßnahmen:
· die Zahl der Verkaufsregionen von vier auf sieben zu erhöhen und
die Regionen neu zu ordnen;
· neue zentrale Abteilungen für Produkt-Know-how und Marketing
zu bilden sowie
· alle Zentralabteilungen als „Service auf Nachfrage“ – nicht als
„Top-down-Anweiser“ – zu installieren, um so eine „Kultur des
dezentralen Holens“ zu etablieren.
Maßnahmenpläne für diese Schritte einschließlich Meilensteine,
Kommunikationswege und Verantwortlichkeiten sind beschlossen.
Bei der Umsetzung gibt es erwartete Abweichungen. So benötigen
die neu zugeschnittenen Regionen mehr Zeit, um sich zu „sortie-
ren“. Doch es gibt auch Abweichungen, mit denen die Geschäfts-
führung nicht in dieser Form gerechnet hat: Beispielsweise
verlangen viele „Key Customer“ offensiv ihre gewohnten An-
sprechpartner zurück. Zudem warten die Regionen – wie gewohnt
– auf die Ansagen der Zentrale zu Personal, Marketing, Logistik et
cetera. Die Zentrale wiederum wartet – wie zuvor beschlossen –
auf die Abfrage ihrer Unterstützungsleistungen. Es ist mehr Sand
im Getriebe als gedacht, die Geschäftsführung ist jetzt gefragt.
Die Geschäftsführung korrigiert ihr Vorgehen: Sie führt eine neue
Betreuungsstruktur ein und etabliert Key Account Manager quer
zur Regionalstruktur. Die Verantwortung für die Fokus-Produkte
delegiert sie zurück an die Zentrale und erlässt verbindliche
Regeln zur Schnittstellenkommunikation zwischen Zentrale und
Region. Weiterhin verkürzt sie den Rhythmus der Abstimmungs-
meetings, operationalisiert die allgemeinen Veränderungsziele
durch verbindliche Quartalsziele für jede Abteilung und entwickelt
ein einheitliches, kennzahlenbasiertes Projektcontrolling zur
Steuerung aller Maßnahmen. Das Mikromanagement durch die
Geschäftsführung soll das Veränderungsvorhaben wieder in die
Spur bringen.
Nach weiteren acht Wochen scheint das Chaos perfekt. Die
neue Rollenverteilung zwischen Zentrale und Regionen führt zu
täglichen Konflikten. Die Kunden verstehen nicht, warum der
Ansprechpartner innerhalb eines halben Jahres bereits zum
dritten Mal wechselt. Unter den Beschäftigten fühlen sich
diejenigen ausgebremst, die sich schon auf den ursprünglich
ausgerufenen Weg gemacht haben. Diejenigen mit größerem
„Widerstandspotenzial“ warten hingegen lieber noch auf die näch-
ste „Rolle rückwärts“, bevor sie (vielleicht) mit Veränderungen
beginnen. Der Anfangsschwung ist dahin, eine Verbesserung der
Kundennähe ist in weite Ferne gerückt.
Einige Mitglieder der Geschäftsführung plädieren dafür, einen
Anschluss-Plan aufzulegen, bei dem die wichtigen Player stärker
beteiligt werden sollen. Das entsprechende Konzept müsse dann
auch gegen Widerstand durchgesetzt werden. Die Mehrheit in
der Geschäftsführung meint jedoch, dass weder ein Plan C oder
D noch eine Beteiligung der Schaltstellen die Situation retten
würden. Ein gänzlich anderes Vorgehen müsse her. Gefordert wer-
den ein flexibleres Eingehen auf ungeplante Ereignisse und das
Einspeisen von Erfahrungen aus Pilotphasen in ein Roll-Out. Die
Schlagworte lauten „Agilität“ und „Mut zu Experimenten“.
Mit einer Mehrheit in der Geschäftsführung wird ein flexibleres
Veränderungsvorgehen beschlossen. Jedoch fehlt eine klare Vor-
stellung von den notwendigen Schritten und den Konsequenzen
für die Organisation. Flexibilität, so ein Mitglied der Geschäfts-
führung, vertrage sich nun mal nicht mit Planungssicherheit.
Die Skeptiker teilen diese Auffassung und befürchten deshalb
eine orientierungslose „Experimentier-Anarchie“. Sie verlangen
ein strukturiertes Vorgehen – schon allein, um als Führungsmann-
schaft auch weiterhin Orientierung geben zu können.
Strategie, Struktur und Kultur bilden den thematischen Kern eines
Veränderungsvorhabens. Selbstverständlich haben die Verantwort-
lichen für den Change vorab klare Vorstellungen über ihr Verän-
derungsprogramm: Sie sind sich über den angestrebten Zustand,
die erforderliche Zielstruktur und die notwendigen kulturellen
Änderungen im Klaren. Doch häufig sind die anfangs benannten
Eckpfeiler bereits nach kurzer Zeit durch die Veränderungspraxis
überholt — beispielsweise durch neue Rahmenbedingungen oder
die organisationsinterne Dynamik der Veränderung.
Als Reaktion auf Abweichungen vom Plan gibt es grob zwei Mög-
lichkeiten: Zum einen immer detailliertere Pläne, die bei jeder
Abweichung noch genauer überarbeitet werden – ein allzu langes
Festhalten an den beschlossenen Zielen ist dabei oft ein Hinder-
nis. Zum anderen die Offenheit gegenüber unerwarteten Ereignis-
sen, die als unmittelbare Folge von Komplexität regelmäßig auf-
treten. Hierzu gehört es, abweichende Signale als willkommenen
Input und nicht als Fehler zu akzeptieren. In überschaubarem
Rahmen gilt es ebenso, neue Möglichkeiten abseits vom Plan aus-
zuprobieren. Die entstehende Unruhe sollte also produktiv genutzt
werden, statt sie reduzieren oder beruhigen zu wollen.
In ungewissen Situation tauchen häufig Dilemmata und Parado-
xien auf, in denen zu entscheiden ist. Standardisierte Regeln und
festgelegte Programme sind in solchen Situationen zu starr, um
sich ergebende Chancen und auftauchende Gefahren nutzen zu
können. Um die Beobachtungs- und Steuerungsmöglichkeiten der
Organisation zu erhöhen, sollte ein planvoll-flexibles Management
an die Stelle von scheinbar verlässlichen Masterplänen treten
– damit kann der Umgebungskomplexität Rechnung getragen wer-
den. Ein kontinuierliches Entwickeln von Konzepten sowie Ergebni-
soffenheit und ernst gemeintes Delegieren gehören dazu.
„Ein Ziel mithilfe von Regeln und einem Plan erreichen“: Dieses
Motto gilt auch für komplexe Veränderungsvorhaben. Die Begriffe
sind allerdings anders aufgeladen: Ziele entwickeln sich von der
klaren und fixen Beschreibung künftiger Situationen zu einer
situativ anzupassenden Orientierung für die nächsten Schritte.
Lediglich der Zweck eines Vorhabens bleibt als Fixpunkt. Regeln
werden dabei zu Leitplanken, die interpretierend praktiziert und
durch diese Praxis stetig geändert werden. Pläne dienen dann der
kontinuierlichen Verständigung, denn im Prozess der Planung und
nicht im Produkt des Plans liegt der Zweck von Plänen.
Um mit komplexen Situationen umgehen zu können, bietet sich
das „iterative Change Management“ an. Das Konzept erzeugt
Verständigungsräume, in denen ausgehandelt wird, wer welche
Gewissheiten vorläufig durchsetzen kann (Macht-Wissen-Kombina-
tion). Der Prozess bleibt ergebnisoffen, da wiederholte Durchgänge
stets Freiräume für kurzfristige Änderungen lassen. Diese „Loops“
dienen dazu, Organisationsroutinen aufzubrechen und Automatis-
men zu stören. Vermeintlich Bewährtes wird systematisch geprüft,
indem sowohl die Gültigkeit von Informationen (Wissen) wie auch
die Anerkennung von Einfluss (Macht) ständige Steuerungsa-
spekte des Change-Vorhabens bleiben.
Fallbeispiel: Auf dem Weg zur iterativ-agilen Organisation
Praxis.
Das Fallbeispiel illustriert, wo die Herausforderungen des „Change Managements in komplexen Situationen“ liegen. Sie
können den Text auf drei Arten lesen: Nur die linke Spalte als reine Fallstudie; nur die rechte Spalte als einen Grundlagentext
oder abwechselnd zwischen linker und rechter Spalte als ein kommentiertes Praxisbeispiel entlang des roten Fadens.
1...,23,24,25,26,27,28,29,30,31,32 34,35,36,37,38,39,40,41,42,43,...68
Powered by FlippingBook