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wirtschaft + weiterbildung
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insgesamt 34 Mitarbeiter trainiert. Sechs
Wochen vor Beginn gab es eine andert-
halbstündige Informationsveranstaltung.
Die Trainer stellten sich vor und infor-
mierten über die Projektziele, den Pro-
jektverlauf und den Aufwand, mit dem
jeder Einzelne zu rechnen hatte. Während
die Maßnahme lief, wurde im Werk ein
Raum zur Verfügung gestellt, den die
Teilnehmer während der Arbeitszeit zum
Meditieren aufsuchen konnten. Nach der
Trainingsmaßnahme sollten die Teilneh-
mer …
• sich im Alltag als präsenter erleben
• ihren eigenen Erfahrungen und damit
sich selbst wohlwollend begegnen
• eine gesteigerte Konzentrationsfähig-
keit erleben
• sich als weniger gestresst und belastet
empfinden
• ein mehr an Freude im Alltag spüren
• Kreativität und Zusammenarbeit geför-
dert wissen
• verschiedene Achtsamkeitsübungen in
den Alltag integriert haben.
Die Trainer definierten „Achtsamkeit“ als
„eine bestimmte Form der Aufmerksam-
keit, die absichtsvoll ist, sich auf den ge-
genwärtigen Moment bezieht und nicht
wertend ist“. Diese Definition stammt von
Jon Kabat-Zinn, einem inzwischen emeri-
tierten Professor der University of Massa-
chusetts Medical School und Pionier der
Achtsamkeitsmeditation im klinischen
Kontext.
Blick aus dem „Helikopter“
„Absichtsvoll“ heißt gemäß der Defini-
tion, dass man seine Aufmerksamkeit
auch in reizstarken Umgebungen bewusst
steuern kann und zum Beispiel in einem
Gespräch mit der vollen Aufmerksamkeit
beim Gegenüber bleibt. Im „gegenwärti-
gen Moment“ etwas zu tun, heißt, dass
man, während man etwas tut, genau
bemerkt, dass man etwas tut und wie
man es tut. Übt man regelmäßig, erlebt
man im Alltag auch öfters spontane Bli-
cke aus der „Helikopterperspektive“ auf
das Selbst und erzeugt damit ein höhe-
res Maß an Selbststeuerungskompetenz.
Alle drei Punkte helfen unmittelbar, den
Umgang mit Stress zum Positiven zu ver-
ändern. Die Teilnehmer lernen im Trai-
ning das Modell „Window of Tolerance“
kennen und damit den Zusammenhang
zwischen höheren kognitiven Funktionen
(wie zum Beispiel das „Priorisieren“),
der Emotionsregulation und dem Stress.
Wenn die gefühlte emotionale Belastung
weder zu stark noch zu schwach ist,
dann befindet sich ein Mensch in einem
Belastungsbereich, der eine optimale Res-
sourcenaktivierung ermöglicht. Kommen
wir jedoch an die Grenzen unseres „Fens-
ters“, sind es eher die Emotionen, die
unser Handeln und Denken bestimmen –
und ein „Dagegenhalten“ im Sinne einer
Selbstregulation gelingt nur mit großer
kognitiver Anstrengung. Emotionen sind
für uns wichtige Botschafter – es emp-
fiehlt sich, den eigenen Emotionen wohl-
wollend zu begegnen. Mit den eigenen
Emotionen und damit Stress einen gesün-
deren Umgang zu finden, ist ein zentraler
Bestandteil des Trainings.
Die Seminarteilnehmer lernen außerdem,
im Alltag zwischen notwendigen und un-
nötigen Unterbrechungen zu unterschei-
den und dass ihr Arbeitstag nicht zwin-
gend ein fragmentierter Tag sein muss.
Sie gehen nach dem Training wesentlich
achtsamer mit ihren kognitiven Ressour-
cen um. An die Stelle des angeblich un-
vermeidlichen Multitaskings tritt Single-
tasking. Es werden zum Beispiel während
eines Telefonats keine E-Mails mehr ver-
sandt. Überhaupt werden E-Mails auch
nicht mehr ständig, sondern in Blöcken
bearbeitet. Und Pausen werden besten-
falls überhaupt nicht mehr zum E-Mailen
genutzt!
Um im stressigen Alltag gezielt Momente
des Selbstgewahrseins zu schaffen, lernen
die Teilnehmer die „Check-in-Methode“
kennen. Das ist eine Übung, die hilft, sich
körperliches, emotionales und geistiges
Befinden gezielt zu vergegenwärtigen.
Profis tun dies mehrfach im Arbeitsalltag.
Nachdem die Teilnehmer die „Check-
in-Methode“ erlernt haben, können sie
in Form einer „bewussten Momentauf-
nahme“ eine Art „Selbst-Feedback“ ein-
holen und damit haben sie in stressigen
Phasen mehr Möglichkeiten zur Selbst-
regulation. Die Teilnehmer werden auch
mit der Übung „Bodyscan“ vertraut ge-
macht. Mit dieser Achtsamkeitsübung
werden sie sensitiver für eigene Körper-
empfindungen und können so Emotionen
früher und deutlicher wahrnehmen. Fer-
ner lernen die Teilnehmer über die „Vier-
Schritte-Methode“ sich starken Emotio-
nen zuzuwenden und diese strukturiert
zu erforschen. Die Zeit zwischen Reiz
und Reaktion wird dadurch geweitet und
führt zu mehr Selbstregulationsfähigkeit.
Die Teilnehmer lernen zu guter Letzt auch
Freude zu kultivieren. Sie beginnen, sich
an Positives zu erinnern und sprechen
gezielt über Positives – zum Beispiel zu
Beginn eines Meetings. Sie öffnen voller
Vertrauen im Alltag ihre Wahrnehmung,
um die Welt mit einem neugierigen und
offenen Geist zu betrachten („Aimless
Wandering“).
Die Fähigkeit zur co-kreativen Zusam-
menarbeit steigt so, da die Teilnehmer es
lernen, auch ihren Kollegen und deren
Ideen mit einem offeneren Geist zu be-
gegnen. So lernen die Teilnehmer im
Achtsamkeitstraining auch, beim Zuhö-
ren innere Bewertungen in der Schwebe
zu halten und mit der Aufmerksamkeit
immer wieder zum Gegenüber zurückzu-
kehren. Und sie können nach einiger Zeit
auch präziser über ihr eigenes inneres
Erleben sprechen. Meetings profitieren
davon auf besondere Weise.
Kontinuierliche Umsetzung
Die Maßnahme beginnt mit einem ein-
tägigen Training. Alle Teilnehmer lernen
sich kennen. Die Trainer erklären den
Begriff „Achtsamkeit“, die Techniken, mit
denen Achtsamkeit eingeübt wird und die
neurophysiologischen Erkenntnisse, auf
denen alles beruht. Anschließend findet
jede Woche ein Modul statt, das jeweils
den gleichen Ablauf hat und immer einen
neuen thematischen Aspekt der Achtsam-
keit präsentiert. Zwischen den Modulen
treffen sich die Teilnehmer, um die In-
halte in ihren Lerngruppen zu vertiefen.
Außerdem wird jeder Teilnehmer regel-
mäßig daran erinnert, das Gelernte im
Selbststudium zu vertiefen. Dabei helfen:
• elektronische Wochenbriefe
• eine Online-Materialsammlung
• haptische Erinnerungen
• ein Lerntagebuch zur Reflexion des ei-
genen Lernfortschritts
• Seit 2016 wird das Training durch eine
eigens programmierte App begleitet.
Didaktisch wird bei der Maßnahme auf
Vielfalt Wert gelegt. Erkenntnisgeleitete
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