wirtschaft und weiterbildung 11-12 /2017 - page 25

wirtschaft + weiterbildung
11/12_2017
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Sind diese beiden Bremsklötze über­
wunden, wächst der Wille, andere zu
verstehen. Dann erwerben wir die Fä­
higkeit, differenzierter zu bewerten.
Wir gelangen vom Verurteilen und
Beurteilen zur Bewertung. Denn nur
durch Kompetenz kann der tatsäch­
liche Wert von etwas festgestellt wer­
den. Beurteilen ist gut, aber noch nicht
differenziert genug. Es kennt nämlich
nur zwei Zustände: richtig oder falsch,
gut oder böse, mag ich oder eben nicht,
kenne ich oder kenne ich nicht. Erst
wenn ich differenziert bewerten lerne,
gelingt es mir, Perspektiven zu wech­
seln und aus unterschiedlichen Blick­
winkeln zu höheren Einsichten zu
kommen. Gepaart damit, versetze ich
mich in die Lage, nicht nur die Stand­
punkte anderer, sondern auch meine
eigenen fundiert auf den Prüfstand zu
stellen. Damit erreiche ich eine weitere
Entwicklungsstufe, die mich befähigt,
Haltung zu gewinnen. Ich bin inner­
lich gefestigt, jedoch nicht erstarrt,
weil ich offen für neue Perspektiven
bleibe. Dann folgt die Königsdisziplin:
das konsequente Handeln, das mir die
Wirksamkeit in der Welt und die Ergeb­
nisse einträgt, die ich mir wünsche.
Wer hat denn noch Zeit, über sich und
die Welt nachzudenken, wenn sich alles
so schnell ändert?
Grundl:
Ich behaupte das genaue Gegen­
teil. Gerade, wenn alles schneller wird,
bekommt Reflexion und Reduktion einen
enormen Stellenwert. Wenn die Komple­
xität unüberschaubar wird und wir den
exakten Weg nicht mehr berechnen kön­
nen, kommt es auf tiefere Orientierung
an. Wir leben in einer Welt, die immer
schneller und fordernder wird. Die jeden
Tag nach „höher, schneller und weiter“
schreit. Das zerrt an unseren Nerven, an
unseren Beziehungen und an unserer
Gesundheit.
Die Schlagzahl zu erhöhen, ist ein Prin­
zip von gestern. Das Gleiche mit einer
höheren Schlagzahl zu tun, führt in eine
Sackgasse. Es geht in Zukunft um mehr
Qualität der Zeit. Nicht um mehr Quanti­
tät der Zeit. Also die Qualität des Schlags
erhöhen und nicht die Anzahl. Mehr vom
Gleichen, das keine Ergebnisse bringt,
bedeutet am Ende nur noch mehr Ver­
schwendung von Zeit und Lebensenergie.
Wir müssen zu einem neuen Verständ­
nis finden: „flexibler, klarer, tiefer“ statt
„höher, schneller, weiter“. Deswegen müs­
sen wir das Leben tiefer verstehen lernen.
Wer zuerst verstanden werden will,
ohne sich um das Verstehen anderer
zu bemühen, der leidet oft unter einem
Mangel an Selbstwert. Der Wert, den wir
uns selbst geben. Wenn wir uns dessen
unsicher sind, wollen wir schon jetzt
jemand sein, statt erst jemand zu wer­
den. Wir glauben, ausgelernt zu haben.
Und so erschlägt der Drang nach Selbst­
bestätigung unsere Lernbestrebungen.
Um wirklich zu verstehen, müssen wir
regelmäßig auf Distanz zu uns gehen.
Wieder zuhören lernen, die Welt und an­
dere Menschen erst in uns aufnehmen,
bevor wir bewerten und entscheiden.
Tief nachdenken und verstehen lernen.
Uns selbst und andere verstehen. Bezie­
hungen, Unternehmen und Märkte. Die
Familie und das Leben verstehen. Erst
wenn wir das Leben verstanden haben,
können wir auch unser persönliches
Leben verstehen. Nicht umgekehrt!
Interview: Martin Pichler
Foto: Pichler
Boris Grundl.
Der
„Menschenentwickler“
fesselt seine Zuhörer
mit nachdenklichen,
präzisen Sätzen –
selbst in lauten Messe-
hallen wie beim „MBT
Meetingpoint 2016“.
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