wirtschaft und weiterbildung 11-12 /2017 - page 24

titelthema
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wirtschaft + weiterbildung
11/12_2017
das Verstehen, für das ich plädiere, ein
riesiger Lernturbo. Und je schneller die
Welt wird, desto schneller müssen wir
natürlich auch lernen. Wer da zurück­
bleibt, verliert. Wem es gelingt, der ge­
winnt. Ein Leitfaden für das Buch ist der
Spruch: Der Dumme lernt nichts aus sei­
nen Fehlern. Der Kluge lernt aus seinen
eigenen Fehlern. Und der Weise lernt aus
den Fehlern anderer.
Die ersten Leser beschreiben die Lek-
türe Ihres Buchs als intensives Erlebnis.
Woher kommt diese Intensität?
Grundl:
Ich kann mich auch viele Jahre
nach meinem Unfall noch an meine Zeit
im Drehbett erinnern. Querschnittge­
lähmt. Nach meinem missglückten Klip­
pensprung zu 90 Prozent gelähmt. Ich
konnte mich im Bett nicht einmal mehr
selbst drehen. Also war da eine Vorrich­
tung, die mich wie eine Frikadelle auf
dem Grill alle paar Stunden gewendet
hat. Ich war wirklich am Ende. Sozial­
hilfe, Abhängigkeit und das Mitleid an­
derer schienen mir bestimmt. Das Anzie­
hen einer Socke dauerte beim ersten Mal
20 Minuten. Mich komplett anziehen
vier Stunden. Mit Disziplin und Konse­
quenz habe ich geübt, bis ich bei vier
Minuten pro Socke war. Und ich habe ge­
merkt: Ich muss extrem viel lernen. Und
mich dabei nicht mit anderen verglei­
chen. Ganz bei mir bleiben. Intrinsisch
ist der Fachbegriff dafür. Ich darf nicht
jammern, sondern muss das Beste aus
den verbliebenen zehn Prozent machen,
die noch da sind. Statt die 90 zu betrau­
ern, die fehlen. Das ist meine Schule. Da
komme ich her. Und daher kommt auch
sicher meine Intensität. Denn im Grunde
hatte ich keine Chance und musste diese
nutzen. Trotzdem habe ich lange ge­
braucht, bis ich mir klar über die einzel­
nen Entwicklungsschritte war und dieses
Buch schreiben konnte.
Ihr Buch will offenbar eine Systematik
liefern für ein erfülltes Leben. Kann das
überhaupt gelingen?
Grundl:
Jede Systematik ist im Grunde
natürlich eine Art Einschränkung. Denn
das menschliche Leben ist zu einzigar­
tig und besonders. Es lässt sich nicht in
ein System, ein Programm pressen. Doch
gewisse Lernschritte, oder besser Lern­
ebenen, gleichen sich. Es handelt sich
um einen Weg durch die persönliche
Entwicklung. Ich denke, dieser Weg ist
in manchen Punkten ähnlich. Doch jeder
geht ihn individuell – je nachdem, wie
sein Leben verläuft. Zu Anfang, etwa
wenn ein junger Mensch aus dem Eltern­
haus aufbricht, hält man Verstehen für
überflüssig. Selbst verstanden zu werden
ist wichtiger, statt andere zu verstehen.
Außerdem will man zuerst dafür bestä­
tigt werden, was man schon ist. Anerken­
nung steht ganz oben auf der Wunsch­
liste. Und wer mich nicht bestätigt, macht
etwas falsch. Er muss Unrecht haben.
Das sind zwei enorme Bremsklötze, mit
denen sich nicht nur Jugendliche, son­
dern auch viele Erwachsene rumschla­
gen. Das Prinzip dahinter füllt die ersten
beiden Kapitel im Buch.
Eine Ihrer Botschaften lautet, Verstehen
sei der Erfolgsfaktor der Zukunft. Wie ist
das gemeint?
Boris Grundl:
Nach 20 Jahren Erfahrung,
die die Grundl Leadership Akademie mit
der Transformation von Führungskräf­
ten gesammelt hat, haben wir die Rück­
meldung von mehreren Tausend Absol­
venten ausgewertet. Wir sind der Frage
auf den Grund gegangen: „Was war Ihre
wichtigste Erkenntnis beim Umsetzen
unserer Schulungsinhalte in der Praxis?“
Dadurch haben wir erfahren, dass 60
Prozent „Verstehen, unabhängig vom
Einverständnis“ als wertvollsten Bau­
stein ihrer Entwicklung sehen. Es geht
darum, die Perspektive eines anderen
einnehmen zu können, auch wenn ich
anderer Meinung bin. Das führt zu zwei
Vorteilen: 1. Ich erweitere meine eigene
Sicht und sehe klarer. 2. Wenn sich je­
mand von mir verstanden fühlt – selbst
wenn ich nicht einverstanden bin – gibt
er mir die Erlaubnis, ihn zu entwickeln.
Es entsteht Aufnahmebereitschaft. Das
ist gerade bei der Zunahme von Agili­
tät und damit von flacheren Hierarchien
von entscheidender Bedeutung.
Intensives Aufnehmen und tiefes Ver­
stehen sind zentrale Fähigkeiten. Wer
beim ersten Widerspruch zur eigenen
Meinung geistig abschaltet, bleibt in sei­
ner Entwicklung stehen. Er lernt kaum
noch dazu. Gärt im eigenen Saft. Kreist
um sich selbst. Aus diesem Grund ist
„Flexibler, klarer, tiefer“ statt
„höher, schneller, weiter“
INTERVIEW.
Das Ziel von Boris Grundl, Chef der Grundl Leadership Akademie in Trossingen
es, dass Menschen die Besten werden, die sie sein können.
Dazu will sein neues Buch „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ eine Systematik
liefern. Alles beginnt damit, dass man sich bemühen sollte, andere wirklich zu verstehen.
„Die Schlagzahl zu erhöhen, ist ein Prinzip von
gestern. Es führt heute in eine Sackgasse.“
Boris Grundl
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