titelthema
22
wirtschaft + weiterbildung
06_2017
R
teure mehr oder minder zufällig zueinan-
der. Oft stünde in einem Unternehmen
Technik herum und einige Mitarbeiter
seien unterbeschäftigt. Diese Bestandteile
würden dann zufällig zur Lösung des Pro-
blems eingesetzt.
In größeren Unternehmen gäbe es regel-
mäßig auch Personal, für das „neue Ver-
wendungen“ gesucht würden. Auch Be-
ratungsprozesse sind nicht selten durch
solche „Mülleimer-Prozesse“ der Ent-
scheidungsfindung gekennzeichnet. Ein
Beraterteam wird zur Moderation einer
Klausur auf oberster Führungsebene an-
gefragt. Weil sich die Klausur zerschlägt,
überlegt man, ob die Berater nicht statt-
dessen ein „kontinuierliches Verbesse-
rungsprogramm“ im operativen Bereich
durchführen können. Die Personalent-
wicklung propagiert ein Konfliktmodera-
tionstraining, das aber von den Teilneh-
mern wegen dringender Probleme in der
Abstimmung zwischen Abteilungen zu
einem Strategie-Workshop umgewandelt
wird.
March plädiert laut Kühl mit ironischem
Unterton für eine „Technologie der Tor-
heit“ im Management. Sie laufe darauf
hinaus, punktuell „Unvernunft“ walten
zu lassen. Die Empfehlung sei, die Ori-
entierung an der Zweckrationalität auf-
zugeben und mitten in einem Unterneh-
men Raum für Experimente zu schaffen.
„Diese Playfulness genannte Verspieltheit
widerspricht allen Vorstellungen von
Zweckrationalität, aber sie kann zu In-
novationen führen, die sich von einem
Management gar nicht planen lassen“,
machte Kühl den Praktikern Mut. Am
deutlichsten werde dieses Konzept im
Gedanken des „Slacks“. Organisationen
nähmen eine gewisse organisatorische
„Achtlosigkeit“ in Kauf, hoffend, dass sie
dadurch eine Reserve für den Fall hätten,
dass plötzlich neue Anforderungen an sie
herangetragen würden. „Organisationen
legen sich Fettpolster zu, lassen Redun-
danzen in ihren Prozessen zu, alles in der
Hoffnung, dass die Mitarbeiter diese Res-
sourcen für Innovationen, Flexibilität und
Wandel nutzen.“ Anders ausgedrückt:
„Organisationen riskieren bewusst eine
schlampige Gestaltung von Arbeits- und
Entscheidungsprozessen, um dadurch
über Möglichkeiten zu verfügen, mit
zukünftigen Problemen zurechtzukom-
men“, schrieb March bereits 1963.
Zum Abschluss seines Vortrags ging
Kühl noch auf die aktuelle Diskussion
über „agile Organisationen“ ein. Sie sei
geprägt durch die Vorstellung, dass Orga-
nisationen nur erfolgreich sein könnten,
wenn sich die Grenzen zwischen den
Abteilungen auflösten, die Hierarchien
stark abgebaut würden und die Formali-
sierung von Prozessen reduziert würde.
„Die Prinzipien lassen sich in Kleinstor-
ganisationen wegen der geringen Kom-
plexität vergleichsweise leicht umsetzen.
Aber die maßgeblich von Kleinstorgani-
sationen getragene Euphorie für die agile
Organisationsform hat auch Großorga-
nisationen angesteckt, obwohl wir aus
der Forschung wissen können, dass die
Auflösung von Abteilungsgrenzen, der
Abbau von Hierarchien und der Verzicht
auf Formalisierung zu einer Explosion
von Komplexität und einer Verschärfung
von Machtkämpfen führt“, warnte Kühl
mit Nachdruck.
Die Impulse, die von March kommen,
sollten laut Kühl genutzt werden, um
ein „ganz anderes Verständnis von agi-
len Organisationsform zu entwickeln“.
Statt monoton die Auflösung von Abtei-
lungen, den Abbau von Hierarchien und
die Entformalisierung von Prozessen zu
fordern, sollte man für „realitätsnähere
Formen der Entscheidungsfindungen“
werben. Kühl: „Organisationen könnten
sich so selbst von dem Nutzen von Ver-
schwendungen, von punktueller Tor-
heit und von Entscheidungsprozessen
in Form von Mülleimern überzeugen.“
Für Großorganisationen sei es leichter,
mit Entscheidungsfindungsprozessen zu
experimentieren, statt die Mode mit der
Auflösung von Abteilungen mitzuma-
chen. „Es gibt ermutigende Anzeichen,
dass im Management und in der Bera-
tung etwas ändern könnte“, gibt sich der
Bielefelder Soziologe optimistisch. „Man
braucht sich nur anzuschauen, wie das
Treibhausmodell der Strategieformulie-
rung in einigen Organisationen durch ein
Graswurzelmodell abgelöst wird.“ Das
„Treibhausmodell“ geht davon aus, dass
– bevor ein Treibhaus geplant und gebaut
wird – Planer überlegen, welche Gemü-
searten man anbauen möchte. Dann wird
nach den besten Mitteln gesucht, um den
Zweck zu erreichen. Das Treibhaus wird
dann nach Plan umgesetzt, und am Ende
wird überprüft, ob auch jeden Tag die ge-
plante Anzahl von Gemüse geerntet wer-
den kann.
Im „Graswurzelmodell“ wird diese Logik
grundlegend umgedreht. Strategien
würden wie Unkraut in einem Garten
wuchern und auch an ungewöhnlichen
Stellen Wurzeln schlagen. Manchmal sei
ein Unkraut so erfolgreich, dass es sich
im ganzen Garten ausbreite. Manchmal
werde das Unkraut wieder entfernt, in
einigen Fällen unterstütze man die Aus-
breitung vielleicht auch. In den meisten
Fällen vergehe das Unkraut aber von al-
lein. Diese Vorgehensweise eigne sich,
wenn die Ziele nicht ohne weiteres fixier-
bar seien, weil man sich selbst noch nicht
klar sei, wie sich ein Feld entwickeln
könne oder weil die Ziele mit anderen
Akteuren noch verhandelt und vereinbart
werden müssten.
In der Diskussion, die sich an Kühls Vor-
trag anschloss, waren sich die Zuhörer
einig: Inkonsequentes Handeln kann ein
Erfolgsrezept sein. Das kann man von
March lernen. Kühl rief Manager und ihre
Berater dazu auf, bei der Umsetzung von
March aber ruhig ein bisschen konse-
quenter zu sein. „Es macht wenig Sinn,
wenn einerseits agile Entscheidungspro-
zesse gepriesen werden, aber andererseits
das Denken in der Organisation durch
Zweckrationalität geprägt ist. Es passt
nicht zusammen, wenn man einerseits
die Idee des Slacks sinnvoll findet, aber
gleichzeitig alle Prozesse der Organisa-
tion stromlinienförmig durchrationalisie-
ren möchte. Es ist erklärungsbedürftig,
wenn man theoretisch Sympathien für
das Mülleimer-Prinzip zeigt, aber prak-
tisch Projektpläne erstellt, die von Mei-
lensteinen nur so strotzen.“
Martin Pichler
„Start-up-Prinzipien taugen nichts für große
Organisationen, aber Marchs Ideen schon.“
Stefan Kühl