WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 6/2017 - page 14

menschen
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wirtschaft + weiterbildung
06_2017
Fotos: Pichler
FRITZ. B. SIMON.
Der Begriff systemisch, eine
Eindeutschung des englischen „systemic“, ist zur
Leerformel geworden. Professor Fritz B. Simon
(68), ein Pionier der systemischen Familientherapie
(Heidelberger Schule) und „Papst“ der systemischen
Organisationsberatung, erklärt in diesem Interview, was
hinter dem Begriff systemisch steckt und warum es keine
systemischen Methoden und Werkzeuge gibt.
Was ist systemisch?
Prof. Dr. Fritz B. Simon:
Systemisch heißt für mich, dass ich die
Systemtheorie nutze, um Hypothesen über die Entstehung be-
obachtbarer Phänomene zu konstruieren. Wer systemisch über
Organisationen nachdenkt, trifft andere Entscheidungen und
handelt anders, als Menschen, die andere Theorien verwen-
den. Das Wesen des Systemischen ist die für viele neue Art zu
denken. Hier hat der verstorbene Bielefelder Soziologe Niklas
Luhmann mit seiner Systemtheorie – vor allem auch mit seiner
Organisationstheorie – die Basis gelegt.
Neuerdings sprechen einige von agiler oder lösungs-
orientierter Organisationsberatung statt von systemischer ...
Simon:
Das Wort systemisch kennzeichnet die Theorie. Mit agil
und lösungsorientiert werden dagegen Methoden beschrieben.
Den Begriff systemisch für ein Methodenrepertoire zu verwen-
den, ist zwar populär, aber unsinnig. Methoden sind Methoden
und als solche weder systemisch, noch katholisch, grün oder
kalt. Die Eigenschaft systemisch kann sich meiner Meinung
nach immer nur auf das (den Methoden zugrundeliegende)
Erklärungsmodell beziehen.
Wenn die „Art des Denkens“ im Mittelpunkt steht, braucht
man dann überhaupt originäre systemische Tools?
Simon:
Alle Methoden und alle Werkzeuge, die zum Ziel füh-
ren, sind salopp gesagt, „systemisch“. Systemiker werden nur
„Systemisch ist die
Theorie, nicht das
Werkzeug“
anders erklären, wie sie wirksam werden. Natürlich gibt es
auch Werkzeuge, die von ihnen erfunden wurden – allen voran
das berühmte „Zirkuläre Fragen“ – aber im Grunde bräuchte
der Systemiker keine eigenen Werkzeuge. Er kann ganz prag-
matisch aus allen Beratungsrichtungen Tools wählen, solange
deren Einsatz nicht zu widersprüchlichen Botschaften an seine
Kunden und inkonsistenten Interventionen führen.
Zwangsläufig stellt sich die Frage, was sich hinter dem Begriff
Systemtheorie verbirgt.
Simon:
Wir reden hier von der neueren soziologischen Sys-
temtheorie, die soziale Systeme - wie zum Beispiel ein Maschi-
nenbauunternehmen - als Kommunikationssysteme betrachtet.
Dass dieses Unternehmen Mitarbeiter beschäftigt, ist Voraus-
setzung dafür, dass Maschinen produziert und verkauft wer-
den können. Wenn man aber wissen will, wie sich das Unter-
nehmen von anderen Unternehmen unterscheidet, muss man
auf die Spielregeln schauen, nach denen in diesem speziellen
Unternehmen kommuniziert wird und Entscheidungen getrof-
fen werden: Wer darf mit wem in wichtigen Meetings sitzen?
Welche Prozesse werden genau geplant und welche passieren
selbstorganisiert? Wer ist an welchen Entscheidungen beteiligt
und wie werden die Entscheidungen der gesamte Belegschaft
mitgeteilt? Wie werden in der Folge ganz konkret Produktion
und Vertrieb organisiert ... Fest steht: Es ist die Kommunika-
tion, die für die funktionelle oder dysfunkionelle Koordination
Professionalisierung.
Fritz B. Simon
begrüßt rund 150 Absolventen seiner
Beraterausbildungen zum jährlichen
Alumnikongress, einem Ort
systemtheoretischer Reflexion.
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