WIRTSCHAFT UND WEITERBILDUNG 6/2017 - page 20

titelthema
20
wirtschaft + weiterbildung
06_2017
folgsbüchern regelmäßig verschwiegen,
wie sehr günstige Umstände nachgehol-
fen hätten. Wer erfolgreiche Unterneh-
men imitiere, der übernähme auch deren
riskante Praktiken und unterschätze das
damit verbundene. Erfolgreiche Unter-
nehmen, die dazu neigten, mit konven-
tionellen Praktiken relativ verlässlich
durchschnittliche Ergebnisse zu erzielen,
würden nie als Vorbilder herausgestellt.
Im Endeffekt sei aber ihr Überleben ge-
sicherter. Riskante Praktiken hätten im
Gegensatz dazu viel weniger Erfolgschan-
cen als immer propagiert werde. Kieser
betonte zum Abschlus seines Beitrags:
„Viele Unternehmen fahren auch heute
noch zu schnell auf Erfolgsgeschichten
ab, ohne sich Alternativen zu überlegen
und ohne die Risiken zu kennen, die mit
den empfohlenen Patentlösungen verbun-
den sind.“
Den Glauben an die Zweck-
rationalität verloren
Während Kieser die Art des Lernens (aus
Erfahrung) in Marchs Theoriengebäude
beleuchtete, erklärte Prof. Dr. Stefan Kühl
die Entscheidungstheorie Marchs und be-
schrieb, wie March die Zweckrationalität
von Unternehmen kritisierte. Managern
und Beratern unterstellen laut March
ganz selbstverständlich, dass Unterneh-
men einen Zweck hätten. Der überge-
ordnete Zweck könne bestimmt werden
und dann würden einfach die Mittel zu
dessen Erreichung abgeleitet. Die entspre-
chenden Mittel würden operationalisiert
und es gäbe quantitative Vorgaben. Mei-
lensteine würden definiert und Aktions-
pläne aufgestellt, deren Erreichung durch
das Management regelmäßig kontrolliert
würde.
„Das zweckrationale Organisationsmo-
dell befriedigt in einem Höchstmaß die
Planungsphantasien in der modernen
Gesellschaft“, so Kühl. Wenn man nur
genug „fundiertes Wissen über Markt­
trends und globale Entwicklungen“ hätte,
ein Verständnis für die Geschäftsprozesse
und „Wissen über Optimierungsmög-
lichkeiten“ mitbrächte, über „Kenntnis
der Branche, ihrer Schwierigkeiten und
Best-Practice-Modelle zu ihrer Lösung
verfügte“, „erprobte Tools zur Erarbei-
tung strukturierter Lösungen“ zur Hand
hätte und „hoch qualifizierte Berater“ mit
„ausgeprägten analytischen Fähigkeiten“
engagieren würde, dann – so die Vorstel-
lung - könne der Organisation nichts pas-
sieren.
Für March ist die Vorstellung, dass der
Zweck einer Organisation dadurch er-
reicht werde, dass Unterzwecke abgeleitet
werden, eine reine Phantasievorstellung
des Topmanagements. Die Annahme,
dass Organisationen aus eindeutigen
Zweck-Mittel-Relationen bestünden, sei
schon deshalb falsch, weil die verschie-
denen organisatorischen Einheiten (zum
Beispiel Abteilungen) ihre eigenen Ziele
und Zwecke ausbildeten. Rhetorisch
rechtfertige jede Organisationseinheit
ihre lokalen Zwecke mit dem Oberzweck
der Organisation, aber durch die Verab-
solutierung der jeweils eigenen lokalen
Perspektive in den organisatorischen Ein-
heiten sei es nicht möglich, die verschie-
denen lokalen Rationalitäten zu einem
harmonisch aufeinander abgestimmten
Konzept zusammenzuziehen. Zwecke
bildeten sich in der Regel in einem Aus-
handlungsprozess zwischen verschie-
denen Gruppen heraus, die aus Mitarbei-
tern unterschiedlicher Abteilungen oder
Regionalbereiche bestünden. Das Ergeb-
nis des Aushandlungsprozesses zwischen
den Gruppen sei dabei nicht ein Zweck,
der „am besten“ für die Organisation sei,
sondern ein Kompromiss, mit dem alle
sich in einer „Koalition“ befindlichen
Akteure mehr oder minder gut leben
könnten.
Organisationen verfügen laut March über
widersprüchliche Zwecke und favorisie-
ren je nach Situation entweder den einen
oder den anderen. „Manchmal wird der
Zweck einfach gewechselt. In Organi-
sationen wird permanent entschieden,
ohne dass immer klar ist, warum und auf
welcher Grundlage. Sind durch eine Ent-
scheidung erst einmal Effekte produziert
worden, sucht man mögliche Zwecke,
die sich zur Rechtfertigung der Entschei-
dung eignen.“ Das Entscheidungsver-
halten ist, so March, häufig nicht ein an
Zwecken orientiertes Handeln von Orga-
nisationsmitgliedern, sondern eher ein
permanenter Prozess zur Findung von
Zwecken, die bereits erfolgte Handlungen
legitimieren können. Kurz: Die „Tat geht
häufig dem Ziel voran“.
In der Praxis wird das zweckrationale
Organisationsmodell, so Kühl, häufig
hektisch repariert: Ziele werden in einem
Strategieprozess priorisiert, in Strategie-
klausuren wird die „Besinnung“ auf die
ursprünglichen Zwecke der Organisation
verlangt, widersprüchliche Zwecke wer-
den mit einer stromlinienförmigen Durch-
rationalisierung von Prozessen bekämpft
oder das Unternehmen wird in zwei
unterschiedliche Organisationen aufge-
spalten, die jeweils einem klaren Zweck
folgen.
Kühl kritisierte auch die systemische
Beraterszene, die auch immer noch den
Glauben an Zweckrationalität am Leben
erhalte. Er meinte damit die unter Sy-
stemikern beliebte „Strategieschleife“,
die aus einer chronologischen Abfolge
von „Analysieren“, „Zukunft erfinden“,
„Entscheiden“, „Zukunftsbild zeichnen“,
„Organisation umbauen“, „Strategisch
controllen“ und „Implementieren“ be-
steht. Es klinge verlockend, wenn pro-
klamiert werde, dass ein Unternehmen
so „von seiner Zukunft her führbar“ sei,
aber letztlich handele es sich lediglich um
eine mit partizipativen Elementen ange-
reicherte Variante zweckrationalen Den-
kens.
Dieses Verharren im zweckrationalen
Denken veranlasste Kühl zu folgendem
Fazit: „Als Beobachter fühlt man sich an
Sisyphos erinnert, der den Stein in immer
neuen Change-Management-Projekten
auf den Hügel der Zweckrationalität zu
rollen versucht, obwohl der Stein ihm
immer, immer wieder entgleitet. Aber
gerade dieses ewige Scheitern an den ei-
genen Zweckrationalitätsansprüchen, so
könnte man ketzerisch anmerken, hält
Sisyphos in Bewegung – und die Strate-
gen unter den Managern und Beratern
beschäftigt.“
Für optimale Lösungen reicht
oft die Energie nicht
March beobachtete, dass in Organisa-
tionen häufig nicht nach „optimalen“,
sondern lediglich nach „befriedigenden“
Lösungen gesucht werde. Die Suche nach
optimalen Entscheidungen setze voraus,
dass möglichst alle Betroffenen am Ent-
scheidungsprozess beteiligt, möglichst
alle denkbaren Entscheidungsalternativen
R
1...,10,11,12,13,14,15,16,17,18,19 21,22,23,24,25,26,27,28,29,30,...68
Powered by FlippingBook