wirtschaft + weiterbildung
01_2016
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das eine Vielzahl an gleichwertigen Alter-
nativen produziert. Es durchbricht zum
Beispiel hierarchische Strukturen und
zeigt, dass Leadership nicht nur an der
Spitze, sondern überall stattfinden kann.
Es hilft uns, Zweideutigkeiten und Wider-
sprüche zu akzeptieren und beides als In-
spirationsquelle zu nutzen.
Wie offen sind Ihrer Erfahrung nach
deutsche Topmanager für das
Granatapfel-Denken?
Karboul:
Im Arabischen lautet ein Sprich-
wort: „Man kann die Sonne nicht mit
einem Sieb verdecken“. Ich will damit
sagen, dass etliche Vorstände und Ge-
schäftsführer längst schon selbst gemerkt
haben, dass sie mit ihren klassischen
Tools an Grenzen kommen. Sie merken,
dass der zwischenmenschliche Faktor
immer wichtiger wird und sind auf der
Suche nach neuen Wegen. Die Personal-
entwicklung hat die Chance, jetzt von der
Vorstandsebene in den Konzernen wie
von der Geschäftsführung größerer Mit-
telständler wahrgenommen zu werden.
Diese Chance sollten Personalentwickler
nutzen und zeigen, wie man im Business
den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Haben Sie eine Botschaft, die sich direkt
an die Personalentwickler richtet?
Karboul:
Ihr könnt mehr bewirken, als
ihr euch zutraut. Gute Personalentwick-
ler beeinflussen die Wettbewerbsfähig-
keit eines Unternehmens zum Positiven.
Außerdem würde ich gerne die Perso-
nalentwickler aufrufen, die Angebote,
die ihnen gemacht werden, kritischer
zu prüfen. Einige Seminaranbieter reden
zwar von „der“ neuen Führungskultur.
Die Übungen und Rollenspiele, die dann
in den Entwicklungsmaßnahmen für an-
gehende Führungskräfte durchgespielt
werden, unterstützen aber immer noch
die alte Führungskultur mit dem allwis-
senden Helden an der Spitze.
Sie waren als Ministerin in Tunesien die
Leiterin einer Behörde mit 1.500
Mitarbeitern. Welche Erfahrungen haben
Sie als Führungskraft gemacht?
Karboul:
In der Praxis habe ich gemerkt,
dass man gar keine großen Interventi-
onen braucht, um wichtige Probleme an-
zupacken. Oft hat es viel gebracht, einen
Menschen „nur“ auf einen Spaziergang
zu schicken, um ihn so auf neue Ideen zu
bringen. Immer wenn meine Führungs-
kräfte eine wichtige Entscheidung treffen
mussten, habe ich dafür gesorgt, dass
einer aus ihrem Team mit Nachdruck die
Rolle des Advocatus Diaboli übernom-
men hat. Sehr bewährt hat es sich auch,
durch gezielte Coaching-Fragen bei den
Mitarbeitern einen Perspektivenwechsel
und damit neue Lösungsideen zu initiie-
ren. Aus mir spricht bei diesen Beispielen
der angelsächsische Pragmatismus. In
Deutschland hätte ich Hemmungen, so
etwas Banales wie eine Anweisung zum
Spazierengehen als Führungsintervention
zu empfehlen. Die deutsche Sehnsucht
nach anspruchsvolleren Werkzeugen
habe ich wohl ein Stück weit abgelegt.
Ich glaube darüber hinaus, die wichtigste
Intervention ist man als Führungskraft
selbst – in seiner Rolle als Mensch.
Können Sie sich vorstellen, in einem
zusätzlichen Buch, doch noch mehr Tools
für Berater und Personalentwickler zu
liefern?
Karboul:
Wenn sich die Leser das wün-
schen, dann gibt es vielleicht auch noch
das „Coffin Corner Workbook“ oder den
„Granatapfel-Index“. Aber eigentlich
wünsche ich mir, dass jeder – angeregt
durch mein Storytelling – seinen eigenen
Weg findet, die Herausforderungen un-
serer Welt zu meistern. Einfach nur Ge-
schichten erzählen – so lernen Menschen
seit Jahrtausenden am besten.
Interview: Martin Pichler
Dr. Amel Karboul.
Die 42-jährige Unternehmensberaterin kämpft
gegen die Vernachlässigung der „weichen Faktoren“ an.
Foto: CLP, London