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wirtschaft + weiterbildung
01_2016
titelthema
Wenn es nach Ihnen geht, dann wird der
Begriff „Coffin Corner“ bald ein fester
Bestandteil der Ausbildung von
Führungskräften sein. Wie kamen Sie
auf diesen Begriff?
Dr. Amel Karboul:
Als ich anfing, mein
neues Buch zu schreiben, suchte ich nach
Beispielen, wie sich Menschen oder Orga-
nisationen in ausweglose Situationen hi-
neinmanövrieren und dann schmerzhaft
scheitern. Der Begriff ist recht früh quasi
zu mir gekommen. Ich habe bei meinen
Recherchen im Internet einige erschüt-
ternde Cockpit-Dialoge gefunden, die
kurz vor dem Absturz von Flugzeugen
geführt wurden.
Was bedeutet nun „Coffin Corner“ im
Zusammenhang mit Führung?
Karboul:
Für mich ist „Coffin Corner“ die
perfekte Metapher für eine bestimmte
Art der Unternehmensführung zu Beginn
des 21. Jahrhunderts. Viele Unternehmen
übertreiben es maßlos mit der Optimie-
rung ihrer Prozesse und verpassen so
wichtige Innovationen oder schränken
ihre Fähigkeit ein, flexibel auf überra-
schende Veränderungen der Märkte rea-
gieren zu können. Die betroffenen Unter-
nehmen erkennen zum größten Teil gar
nicht die Risiken, die sie eingehen – bis es
zu spät ist. In Zeiten einer unbeherrsch-
baren Komplexität verringert der Opti-
mierungswahn den Handlungsspielraum
drastisch.
Das hört sich an wie eine verspätete
Kritik am Shareholder-Value-Ansatz …
Karboul:
Es ist viel mehr als das. In den
„Coffin Corner“ gerät man nicht nur
durch ein Shareholder-Value-Denken,
sondern außerdem noch, wenn man auf
eine streng hierarchische, pyramidenför-
mige Führungsorganisation setzt oder
wenn man bahnbrechende Innovationen
nicht ernst nimmt und sein Geschäftsmo-
dell nicht darauf abstimmt. Ein Beispiel:
Als ich das erste Mal in meinem Leben
ins Internet gegangen bin, dachte ich,
„Yahoo“ sei das Internet. Heute ist Yahoo
laut „Handelsblatt“ (11.12.2015) nur ir-
gendein „strauchelnder Konzern“.
Kann ein Unternehmer messen, wie weit
er schon im „Coffin Corner“ steckt?
Karboul:
Selbst die Mainstream-Betriebs-
wirtschaftslehre gibt inzwischen zu, dass
viele weiche Faktoren existieren, die maß-
geblich zum Erfolg eines Unternehmens
beitragen, die aber nicht messbar sind.
Denken Sie auf der politischen Ebene an
den „arabischen Frühling“: Hätte man es
messen können, dass eine ganze Region
in Aufruhr versetzt wird, nur weil ein Ge-
müsehändler sich aus Protest gegen Be-
hördenwillkür selbst verbrennt? Wie weit
man schon im „Coffin Corner“ ist, kann
man meiner Erfahrung nach sehr schnell
herausfinden, indem das Management
(am besten persönlich) offen und ehrlich
mit den Kunden redet. Um auf so eine
Idee zu kommen, müssen viele Manager
aber erst einmal bereit sein, auf eine neue
Art zu denken.
Die „Coffin-Corner“-Metapher führt zur
Metapher vom „Granatapfel-Denken“.
Was steckt dahinter?
Karboul:
Um als Unternehmen nicht in
den „Coffin Corner“ zu geraten, sollte
man eine neue Art des Denkens verinner-
lichen. Ein Granatapfel hat viele, zufällig
in der Frucht verteilte Kerne. Das Granat-
apfel-Denken steht also für ein Denken,
Amel Karboul kam nach dem Abitur
aus ihrem Heimatland Tunesien nach
Deutschland, um an der Universität
Karlsruhe Maschinenbau zu studieren.
Nach ihrem Abschluss (als Jahrgangs-
beste) arbeitete sie für Daimler-Chrysler,
die Boston Consulting Group und die
Beratergruppe Neuwaldegg in Wien, die
zu den Pionieren der systemischen Orga-
nisationsberatung gehört. Im Jahr 2007
gründete sie ihr eigenes Beratungsunter-
nehmen „Change, Leadership & Partners
(CLP)“ mit Sitz in Tunis, Köln und Lon-
don.
Ministeramt in Tunis und
Promotion in London
Während CLP von ihrem Mann, einem
deutschen Unternehmensberater, und
einem Team von festen und freien Con-
sultants weitergeführt wurde, zog es Kar-
boul für zwei Jahre in die Politik. Von
2014 bis 2015 war sie als Ministerin für
Tourismus Mitglied der tunesischen Über-
gangsregierung. Deren Mitglieder sahen
sich als „Experten für einen demokrati-
schen Wandel“ und hatten sich darauf
geeinigt, nach der Wahl einer regulären
Regierung, wieder aus der Politik auszu-
steigen.
Karboul, die aktuell in London an der
Duke University zum Doktor der Psy-
chologie promoviert wurde, arbeitet jetzt
zusätzlich zu ihrer Tätigkeit als Beraterin
und Coach an einer weiteren Karriere als
Keynote-Speaker. Einen großen Auftritt
hatte sie mit ihrer Rede „How leaders
thrive in a complex world“ bei der Konfe-
renz „Tedxberlin“, von der es eine aussa-
gekräftige Videoaufzeichnung gibt
„Jetzt hat die PE die Chance,
wahrgenommen zu werden“
INTERVIEW.
In einem Gespräch mit „wirtschaft und weiterbildung“ schildert Dr. Amel
Karboul, wie sie zu der Metapher „Coffin Corner“ kam, was sie bedeutet und welche Kraft
vom „Storytelling“ ausgehen kann.