Immobilienwirtschaft 6/2019 - page 30

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FINANZIERUNG, INVESTMENT & ENTWICKLUNG
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KOLUMNE
Im Gegensatz zu der Bedeutung des Ortes gehen die Restau-
rierungsarbeiten nur schleppend voran. Seit 50 Jahren steht be-
reits das rostige Gerüst vor den Propyläen und dem Parthenon.
Die wenigen strahlend weißen Steine setzen sich deutlich von
ihrer historischenUmgebung ab. Aber immer noch liegen Säulen-
stümpfe, Abaki und Echini verstreut durcheinander und bilden
ein Puzzle, das scheinbar keiner zusammensetzen will. Bestimmt
stecken die in Ehre ergrautenMänner imAkropolis-Forschungs-
institut die Köpfe zusammen und streiten immer noch um jeden
Stein. Eines Gebäudes, das vor zweieinhalb Jahrtausenden in acht
Jahren errichtet worden ist.
Selbst die Industriegebiete am Rande von Athen wirken wie
verblichene Hinterlassenschaften längst vergangener Generati-
onen. Ein Land ohne wirtschaftliche Entwicklung seit mindes­
tens zehn Jahren. So lange gibt es die Krise bereits. Kürzung der
Staatsausgaben, Durchschnittslöhne von 800 Euro, eine Jugend-
arbeitslosigkeit von über 50 Prozent und eine Arbeitslosenquote
von über 20 Prozent. Ergebnis gewissenloser Regierungen und
Familienclans. Ergebnis einer Gesellschaft ohne verlässliche, ge-
rechte Institutionen und voller Individuen, die davon überzeugt
sind, selber zu kurz zu kommen, und die nicht verstehen, wozu
Steuern gut sind. Die die Hoffnung verloren haben, etwas ge-
meinsam auf die Beine zu stellen. Diese hoffnungslose Wut wird
deutlich bei den ständig hupenden Autofahrern, den achtlosen
Ticketverkäuferinnen, den abgestumpften Polizisten oder beim
schummelnden Taxifahrer. Viele mogeln sich eben so durch.
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ch stehe zusammenmit meiner Tochter zum erstenMal wieder
nach Jahren auf der Akropolis. Ein kühler Wind weht die An-
strengungen des Aufstiegs über die steilen Treppen der Propy-
läen davon. Ruhe kehrt ein. Das unter uns liegende Häusermeer
fügt sich harmonisch in die Täler zwischen den kahlen Rücken
von Hymettos, Pentelikon und Parnitha-Gebirge und sieht von
hier oben friedlich und beinahe wohl geordnet aus.
Vor etwa 2500 Jahren konnte das wackelig demokratische
Athen einen überraschenden Sieg über das mächtige Weltreich
der Perser feiern. Zum Dank an ihre Schutzgöttin Athene und
zum eigenen Ruhm bauten sich die Bürger Athens in den fol-
genden friedlichen Jahrzehnten eine Mischung aus Bank und
Heiligtum, den Parthenon. Das gelang ihnen so klug und so fein
und so harmonisch, dass es über Jahrtausende zum legendären
Maßstab und Vorbild unzähliger Architektengenerationen auf
der ganzen Welt wurde.
Wenn die Annahme stimmt, dass beim Urknall einmal die
gesamte Energie des Universums in einem winzigen Punkt ver-
sammelt war, dann ist dieser Ort quasi der Urknall der abendlän-
dischen Kultur. Auch wenn unser heutiger Blick darauf idealisiert
sein mag, der Bau der Akropolis, die verfasste Demokratie, die
Vorstellung vom Gemeinwesen in der Polis, vom ethischen An-
spruch an die handelnden Personen, von der Idealstadt mit der
Agora als zentralem Platz, auf dem die Bürger zusammenkom-
men und gemeinsam im politischen Wettstreit entscheiden, ist
heute noch ein identitätsstiftendes Vorbild.
Polis
Foto: Dirk Weiß
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