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vorhandene Risikotragfähigkeit ausreicht (also
positiv bleibt). Diese Zusatzinformationen, die
auch die Brücke zu Messkonzept gemäß 2
darstellen, lassen sich unmittelbar aus der zur
Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen not-
wendigen Risikoaggregation mittels Monte-
Carlo-Simulation ableiten (siehe dazu Gleißner,
2017b).
In jedem Simulationslauf wird dann geprüft, ob
am Ende der simulierten Periode die dann vor-
handene Risikotragfähigkeit positiv ist oder
nicht. Bei der Messung der Risikotragfähigkeit
gemäß Konzeption 2 wird eine Risikoaggregati-
on durchgeführt, und damit werden auch Kom-
binationseffekte bestehender Risiken ausge-
wertet. Dieses Verständnis der Risikotragfähig-
keit korrespondiert unmittelbar mit den Anfor-
derungen aus §91 Absatz 2 Aktiengesetz
(KonTraG), demzufolge „bestandsgefährdende
Entwicklungen“ früh zu erkennen sind, da sich
diese meist aus Kombinationseffekten von Risi-
ken ergeben (was gerade die Risikoaggregation
erforderlich macht).
Sowohl aus dem Risikotragfähigkeitskonzept
Konzeption 1 als auch dem nach Konzeption 2
ergeben sich konkrete Kennzahlen, die in et-
was unterschiedlicher Weise den „Abstand“
der aktuellen Situation des Unternehmens zu
einer „bestandsgefährdenden Entwicklung“
ausdrücken (und aufgrund der zentralen Be-
deutung als ein neuer Key-Performance-Indi-
kator, KPI, angesehen werden können). Es ist
dabei zur Förderung der Aussagefähigkeit oft
sinnvoll, wenn ein solches Risikotragfähigkeits-
konzept zwei Kennzahlen umfasst. Wählt man
speziell ein Risikotragfähigkeitskonzept der
Konzeption 1, könnten dies die beiden folgen-
den Kennzahlen sein:
a)
Risikotragfähigkeitswert:
maximaler Um-
fang eines (liquiditätswirksamen) Verlusts,
wendiges Mindest-Rating (Ratingnote: B)
sichergestellt bleibt.
2. Risikotragfähigkeit – Konzeption 2: Die (freie)
Risikotragfähigkeit ist die Differenz zwischen
dem Risikodeckungspotenzial
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und dem ag-
gregierten Gesamtrisikoumfang (im ein-
fachsten Fall der Eigenkapitalbedarf). Dieser
misst z. B. den Umfang möglicher Verluste,
der mit einer vorgegebenen (vom Mindest-
Rating) abhängigen Wahrscheinlichkeit nicht
überschritten wird (Value-at-Risk).
Beide Konzeptionen erscheinen zunächst recht
unterschiedlich, wenngleich die gemeinsame
Logik – Aufzeigen eines noch zusätzlich ver-
kraftbaren risikobedingten Verlusts – offen-
sichtlich wird. Erkennbar ist auch, dass beide
Konzeptionen nicht ohne einen Bezug zu einem
Mindestrating (und damit einer akzeptierten In-
solvenzwahrscheinlichkeit p) auskommen.
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Der
z. B. im Rahmen der Risikopolitik zu regelnde
maximal akzeptierte Risikoumfang
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wird ope-
rationalisiert über die noch akzeptierte Insol-
venzwahrscheinlichkeit (bzw. das Zielrating).
Da schon aufgrund der Restriktionen seitens
der Gläubiger für die Sicherstellung der Finan-
zierung im Allgemeinen ein B-Rating (p unge-
fähr 5%) notwendig ist, wird sich die Risiko-
tragfähigkeit höchstens auf dieses Niveau be-
ziehen, d. h. bezogen auf das Mindestrating von
B ergibt sich die höchste Risikotragfähigkeit.
Bei einer geringeren Risikotoleranz bzw. höhe-
rer Risikoaversion wird die Unternehmensfüh-
rung ergänzend ein höheres Mindestrating
(z. B. BB oder BBB-) festlegen, was zu einem
höheren Anspruchsniveau führt.
Bei der Messung der Risikotragfähigkeit gemäß
Konzeption 1 kann man vordergründig (oder
vereinfachend) auf eine simulationsbasierte Ri-
sikoaggregation (Monte-Carlo-Simulation) und
sogar auf eine Risikoanalyse verzichten. Es
bleibt damit aber auch unklar, mit welcher
Wahrscheinlichkeit Kombinationseffekte mehre-
rer bestehender Risiken den berechneten Maxi-
malverlust (freie Risikotragfähigkeit) auslösen.
Es ist damit nicht erkennbar, mit welcher Wahr-
scheinlichkeit das vorgegebene Mindestrating
verletzt wird. Um dieses grundlegende Manko
von Risikotragfähigkeitskonzept 1 zu beheben,
kann neben der Höhe der (freien) Risikotragfä-
higkeit „in Euro“ eine zusätzliche Kennzahl an-
geben werden: die Wahrscheinlichkeit, dass die
weisen. Die Version 3a betrachtet lediglich
den Risikoumfang. Version 3b drückt dage-
gen aus, dass zusätzliche Risiken immer
genau dann akzeptabel sind, wenn diesen
adäquate zusätzliche Erträge gegenüber-
stehen. Dieses Verständnis des Risikoappe-
tits als Aussage darüber, wie erwartete Er-
träge und Risiken gegeneinander abgewo-
gen sind, korrespondiert unmittelbar mit
dem Konzept der risikogerechten Bewer-
tung von Handlungsalternativen.
Messung der Risikotragfähigkeit
Bei Inkrafttreten des KonTraG (und speziell vor
Basel II) erschien eine Messung der Risiko-
tragfähigkeit als Differenz des aggregierten
Gesamtrisikoumfangs zum Eigenkapital (als
Risikodeckungspotenzial) ausreichend. Inzwi-
schen ist jedoch klar, dass „bestandsgefähr-
dende Entwicklungen“ und Insolvenzen im All-
gemeinen durch die Illiquidität ausgelöst wer-
den, z. B. weil Mindestanforderungen an das
Rating nicht erreicht oder Covenants verletzt
werden. Dieser Sachverhalt erfordert eine Er-
gänzung der älteren einfachen Risikotragfähig-
keitskonzepte, die lediglich das mögliche Sze-
nario einer Überschuldung durch den vollstän-
digen Verzehr des Eigenkapitals
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betrachtet
hatten. Unter Berücksichtigung von Rating-
und Liquiditätsrestriktionen kann man heute
beispielsweise aufbauend auf dem Risikoag-
gregationsmodell die (freie) Risikotragfähigkeit
über folgende Fragestellungen messen: Wie
viel Eigenkapital könnte man dem Unterneh-
men (z. B. in Form einer Ausschüttung) entneh-
men, ohne dass die Wahrscheinlichkeit der Ver-
letzung von Rating-Anforderungen (B-Rating)
z. B. über 1% steigt? Die Menge des entnehm-
baren Eigenkapitals – eine „strategische Eigen-
kapitalreserve“ – entspricht dann genau der
freien Risikotragfähigkeit.
Im Grundsatz kann man zwei „Hauptvarianten“
zur Messung der Risikotragfähigkeit unter-
scheiden.
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1. Risikotragfähigkeit – Konzeption 1: Als
(freie) Risikotragfähigkeit wird der maxima-
le (liquiditätswirksame) Verlust verstanden,
bei dem ein (durch Finanzkennzahlen abge-
schätztes) für die Liquiditätssicherung not-
Abb. 2: Risikodeckungspotenzial
und Risikotragfähigkeit
CM November / Dezember 2017