personalmagazin 10/2016 - page 70

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RECHT
_SCHWELLENWERTE
personalmagazin 10/16
und mittleren Unternehmen dienen
(Beschluss des Bundesverfassungsge-
richts vom 27.1.1998, Az. 1 BvL 15/87).
Hiermit soll der typischerweise gerin-
geren finanziellen Ausstattung und Be-
lastbarkeit dieser Unternehmen Rech-
nung getragen werden; zugleich soll
berücksichtigt werden, dass Ausfälle
oder Leistungsdefizite einzelner Mit-
arbeiter einen Kleinbetrieb viel stärker
treffen als einen Großbetrieb. Schließ-
lich soll die meist wesentlich persönli-
chere Beziehung zwischen Belegschaft
und Inhaber in kleineren Unternehmen
abgebildet werden, die eine direkte
Regelung der Arbeitsbeziehungen er-
leichtern soll.
Anknüpfungspunkte in
unterschiedlichen Gesetzen
Um dies umzusetzen, hat der Gesetzge-
ber aber leider nicht nach einem großen
Plan agiert, sondern einzelfallbezogen
mit uneinheitlichen Anknüpfungspunk-
ten einen Wildwuchs an Schwellen-
werten geschaffen. Anknüpfungspunkt
kann „das Unternehmen“, § 22 SGB VII,
„der Betrieb“, § 9 Betriebsverfassungs-
gesetz (BetrVG), „die Arbeitsstätte“, §
11 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) oder
gar „der Arbeitgeber“, § 71 SGB IX, sein.
Regelungen gelten ab „mehr als“ x, § 8
Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG),
oder „mindestens“ x Personen. Manch-
mal kommt es dabei auf die „in der Re-
gel“ Beschäftigten an, manchmal auf
die tatsächlich Beschäftigten oder gar
die „jahresdurchschnittlich monatliche“
Anzahl (§ 71 SGB IX).
Wer ist maßgeblich in persönlicher
Hinsicht? Hier wird angeknüpft an die
„Arbeitnehmer“, uneinheitlich definiert
etwa im BetrVG und Kündigungsschutz-
gesetz (KSchG), oder bestimmte Perso-
nengruppen wie zum Beispiel in § 1
Sprecherausschussgesetz (SprAuG), §
18 Mutterschutzgesetz (MuSchG), § 62
BetrVG, § 94 SGB IX und andernorts;
Teilzeitbeschäftigte werden anteilig oder
voll berechnet; ruhende Arbeitsverhält-
nisse zählen oder zählen nicht. Je nach
Beschäftigtenstruktur können daher
in einem Unternehmen mit nur knapp
über 20 Arbeitnehmern „nur“ drei bis
vier, aber potenziell auch acht oder mehr
Schwellenwerte überschritten sein – ein
himmelweiter Unterschied. Es empfiehlt
sich daher ein sorgfältiges Vorgehen bei
jeder Prüfung.
Sonderfall: Leiharbeitnehmer wie
Stammarbeitnehmer mitzählen
Die folgenden Schwellenwerte verdie-
nen besondere Aufmerksamkeit, da sie
in jüngerer Zeit Gegenstand richtungs-
weisender Gerichtsentscheidungen wa-
ren und in der Praxis noch wenig bis gar
nicht umgesetzt sind:
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat
bereits bei einer Reihe von Entschei-
dungen Leiharbeiternehmer bei der
Ermittlung der relevanten Schwellen-
werte mit einbezogen. Nunmehr sieht
§ 14 Abs. 2 Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetz (AÜG) in der geplanten neuen
Fassung vor, dass Leiharbeitnehmer ab
einer Überlassungsdauer von mehr als
sechs Monaten im Betriebsverfassungs-
gesetz grundsätzlich mitzuzählen sind.
Leiharbeitnehmer zählen dann also
grundsätzlich wie Stammarbeitnehmer.
Ausnahmen gelten im Rahmen des §
112a BetrVG und bei der Unternehmens-
mitbestimmung.
Sonderfall: Mitarbeiter von
Konzernunternehmen im Ausland
Nach der Rechtsprechung des BAG gilt
sowohl im Betriebsverfassungsrecht als
auch im Kündigungsschutzrecht das
sogenannte Territorialprinzip. Danach
sind grundsätzlich nur Arbeitnehmer
zu berücksichtigen, die in Betrieben
auf dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland beschäftigt werden. Das
Landgericht Frankfurt am Main hat
vertreten, dass im Ausland beschäf-
tigte Mitarbeiter eines Tochterunter-
nehmens bei der Anzahl der für die
Anwendung des Mitbestimmungsge-
setzes maßgeblichen Arbeitnehmer zu
berücksichtigen seien (LG Frankfurt,
Urteil vom 16.2.2015, Az. 3-16 O 1/14).
Das Landgericht Berlin hingegen folg-
te im Anschluss dem „traditionellen“
Ansatz (LG Berlin, Urteil vom 1.6.2015,
Az. 102 O 65/14). Eine höchstrichterli-
che Antwort auf die Frage steht derzeit
noch aus.
Sonderfall: Schwellenwert bei
Massenentlassungen
Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbei-
tern sind zur vorherigen Anzeige von
Entlassungen verpflichtet, die bestimm-
te Schwellenwerte erreichen. Hierbei
können befristet Beschäftigte, die in der
Regel im Betrieb beschäftigt werden, für
die Betriebsgröße voll zu berücksichti-
gen sein. Anders als etwa im Falle des §
23 KSchG sind nach einer jüngeren Ent-
scheidung des EuGH (EuGH, Urteil vom
9.7.2015, Az. C-229/14) auch Fremdge-
schäftsführer einer GmbH bei der An-
zahl der regelmäßig im Betrieb beschäf-
tigten Arbeitnehmer mitzuzählen.
Nach alledem sind Schwellenwerte
durchaus als arbeitsrechtliches Minen-
feld zu bezeichnen. Es lohnt sich, im-
mer wieder zu vergegenwärtigen, dass
das deutsche Arbeitsrecht keineswegs
einheitlich zur Anwendung gelangt.
Viele potenzielle Probleme lassen sich
jedoch durch kluge Gestaltung im Vor-
feld lösen.
DR. TILL HOFFMANN-REMY
ist Fachanwalt für Arbeits-
recht bei Kliemt & Vollstädt in
Frankfurt am Main.
Fachbeitrag
Ermittlung der Schwellenwerte
bei Massenentlassungen (HI1752715)
Die Arbeitshilfe finden Sie im Haufe
Personal Office (HPO). Internetzugriff:
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