wirtschaft + weiterbildung
07/08_2017
23
Fragwürdige Physiognomik
Alexander Todorov, Psychologieprofessor an der Princeton
University in New Jersey und einer der renommiertesten
Forscher zum Thema „Gesichterwahrnehmung“ beschäf-
tigt sich in seinem neuen Buch mit der längst als Pseudo-
lehre entlarvten „Charakteranalyse“.
Die Physiognomiker betrachten das Gesicht als Landkarte,
die die versteckten Eigenschaften einer Person enthüllt.
Aber Gesichter liefern keine Landkarte unserer Persön-
lichkeit, so Todorov in seinem Buch. Die Landkarte ist in
unserem Kopf und geprägt von unserer eigenen Kultur,
unserer individuellen Geschichte und unseren Vorurteilen.
In seinem Buch nimmt der Psychologe seine Leser mit auf
eine faszinierende und verstörende Reise durch die Welt
der Gesichtererkennung. Anhand von zahlreichen Fotos
und mit dem Computer berechneten Gesichtsausdrücken
zeigt er auf, welchen verblüffenden Trugschlüssen wir
unterliegen.
Kann man vom Gesicht eines Politikers tatsächlich
auf dessen Wahlchancen schließen?
Legt man Personen Fotos von Gesichtern vor und bittet
sie, diese einem Arzt, Massenmörder und Ingenieur zuzu-
ordnen, zeigen sie eine hohe Übereinstimmung. Grund
dafür sind geteilte Stereotype. Wie stark diese wirken,
zeigen Todorovs Studien zu Politikern. So kann die naive
Gesichterbeurteilung sogar den Wahlerfolg vorhersagen.
Wer kompetent erscheint, wird eher gewählt. Und je nach
politischer Gesinnung werden unterschiedliche Stereotype
bevorzugt: Konservative favorisieren eher dominante und
männliche Gesichter.
Schon geringe Veränderungen machen aus einem norma-
len Gesicht eine „kriminelle Version“. Fotos enthüllen, dass
wir Gesichter nicht als einzelne Komponenten, also Augen
und Mund sehen, sondern als ganzheitliche Gestalt. Zeigt
der Mund ein Lächeln, sehen wir automatisch auch in den
Augen ein Lächeln – obwohl es nicht vorhanden ist. Allein
ein stärkerer Kontrast von Augen und Mund zum Rest des
Gesichts bewirkt, dass ein männliches Gesicht plötzlich als
ein weibliches Gesicht erscheint.
Im letzten Kapitel zeigt der Psychologe auf, dass wir bei der
Gesichtererkennung und dem Erkennen von emotionalen
Ausdrücken keineswegs so gut sind, wie wir glauben. So
Aufklärung.
„Du schaust Deinem Gegenüber ins Gesicht und
erkennst seinen Charakter, seine Talente und seine Bedürfnisse,
ohne auch nur ein einziges Wort zu wechseln“, mit diesen
Worten wirbt ein Trainer für sein Physiognomik-Seminar. Ein
US-Psychologieprofessor kritisiert diese „Pseudolehre“.
lassen sich starke Emotionen wie Schmerz oder Verlust oft
nicht allein am Gesicht erkennen. Entscheidend dafür ist
der Körper. Setzt man ein Verlierergesicht auf einen Gewin-
nerkörper, dominiert der Körperausdruck.
Auch unbekannte Gesichter erkennen wir schlecht, was
sich besonders bei Zeugenaussagen fatal auswirken kann.
So mancher Zeuge tritt zwar überzeugend auf, nur korre-
liert seine Selbstsicherheit oft nicht mit der Genauigkeit
seiner Wahrnehmung. Grund ist ein Fehlschluss. Bei uns
bekannten Personen stellen wir eine Beziehung zwischen
ihrem Gesicht und ihrem Charakter her, allerdings nur, weil
wir sie kennen. Bei Fremden funktioniert das nicht. Den-
noch verfallen wir der Illusion, dass wir das natürlich auch
können.
Physiognomiker sahen eine Beziehung zwischen Aussehen
und Charakter, fanden sie aber nicht, resümiert der Autor.
Die Wissenschaft zeigt, dass es eine Beziehung zwischen
Aussehen und unserem Eindruck gibt, aber nicht zwischen
Aussehen und Charakter.
Pseudowissenschaft kommt heute im Gewand von
Algorithmen daher
Todorovs Buch öffnet dem Leser die Augen, wie tückisch
unsere Eindrücke oft sind und unterstreicht die ausgespro-
chene Fragwürdigkeit der Physiognomik. Und das ist wich-
tiger denn je. Denn die Pseudolehre verkleidet sich heute
im modernen Gewand von Algorithmen. So behauptet ein
israelisches Start-up, allein am Gesicht mit 80-prozen-
tiger Genauigkeit zu erkennen, ob jemand ein Terrorist sei.
Regierungsbehörden und Sicherheitsorganisationen set-
zen die Software bereits ein.
Bärbel Schwertfeger
Alexander Todorov:
„Face Value:
The Irresistible Influence of First
Impressions“, Princeton University
Press 2017, 327 Seiten,
27,99 Euro