Immobilienwirtschaft 11/2017 - page 39

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meiner Lehrjahre war London mit der Architectural Association
und den großartigen Architekturbüros von Norman Foster und
Richard Rogers …
Die Studenten im Kongresszentrum von Katowice wollen
mehr erfahren. Ihre Fragen kreisen um ihre eigenen Perspektiven
nach dem Studium. Ich rate ihnen, in die wirklich großen Städte
zu gehen, um von denen zu lernen, die es draufhaben. Bildung hat
sehr viel mit Vorbildern und der anschließenden Suche nach dem
eigenen Weg zu tun. Denn in der Regel reicht es nicht, jemanden
zu fragen, wie es geht. Es muss gelebt werden. Aber mein Studium
ist Ewigkeiten her. Heute ist alles anders. Kaum ein Bereich hat
solche radikalen Veränderungen erlebt wie das Hochschulwesen.
Die Reformen nach der Bologna-Erklärung der 29 europäischen
Bildungsminister haben keinen Stein auf dem anderen gelassen.
Das Studiumsollte kürzer, praxisnäher und internationalerwerden.
DieHochschulen ächzennochheute unter denkolossalenAnstren-
gungen, die besonders zuAnfang vonwütendenProtestenbegleitet
wurden. Auch heute noch sindweitere Reformen auf der Bologna-
Baustelle erforderlich, um die ursprünglichen Ziele zu erreichen.
Ich sehe vor allem, dass sich Ausbildung und Berufsleben im-
mer mehr voneinander entfernen. Die, die an den Universitäten
unterrichten, bauen relativ wenig und die, die viel bauen, unter-
richten nicht viel. In einer sich immer weiter ausdifferenzierenden
Gesellschaft mag beides wohl nicht mehr zusammen gehen.
Die jungen ArchitektInnen erlebe ich dann nach ihrem Stu-
dium. Gerade habe ich mal nachgefragt: In unserem Architek-
turbüro arbeiten zurzeit Vertreter aus 15 Nationen. Die Berufs-
anfänger der Generation Bachelor sind deutlich jünger. Mit 17
Abitur und mit 22 Studienabschluss kommt häufig vor. Sie sind
motiviert, flexibel, mehrsprachig, Digital Natives und internati-
onal erfahren. Kann ich aber deshalb von diesenWunderkindern
erwarten, dass sie bereits fertig ausgebildete Architekten sind und
Planungs- und Bauerfahrungmitbringen?Wir sind auch deshalb
ein Ausbildungsunternehmen geworden und haben unsere Or-
ganisation entsprechend umgebaut. Wir wollen uns gemeinsam
weiterentwickeln und dabei auch jeden für sich voranbringen. Die
Ausbildung ist nicht mit dem Bachelor oder Master abgeschlos-
sen. Vielmehr geht es darum, weiterzulernen, die eigenen Ziele
immer wieder neu zu formulieren und an die veränderten Bedin-
gungen anzupassen. Wir wollen nicht akzeptieren, dass die Welt
so ist, wie sie ist. In jeder Lebensphase können wir versuchen,
unser Schicksal in die Hand zu nehmen. Immer wieder stellenwir
den jungen Kollegen Fragen: Wo willst du persönlich hin? Was
willst du lernen imkommenden Jahr?Was könnenwir zusammen
bessermachen?Wir beschäftigen eine Deutsch-Lehrerin, machen
kontinuierlichWeiterbildungsprogramme, zumBeispiel für BIM,
laden Hersteller ein, uns ihre Entwicklungen zu präsentieren,
und gehen abends zusammen in die Oper oder in die Galerien.
Dabei sind wir ein Beispiel von vielen. Bei einer Veranstal-
tung des Wirtschaftsrates beklagte sich ein Teilnehmer über den
Arbeitskräftemangel. Nach meiner Frage zu ihrer eigenen Situ-
ation in die Runde erhoben 20 Manager ebenfalls ihre Hände.
Alle suchen Mitarbeiter, zahlen inzwischen höhere Löhne und
qualifizieren sich als bessere Arbeitgeber. Gut so. Immer mehr
Menschen bekommen eine solide Ausbildung, verdienen mehr
und erhalten dann im Beruf ihre individuelle Weiterbildung. Ein
gutes Konzept. Eigentlich. Wenn da nicht die riesengroße Dis-
krepanz zwischen Angebot und Nachfrage wäre. Es gibt zurzeit
78 Bachelor-Studiengänge für Architektur in Deutschland, Ös-
terreich und der Schweiz. Allein in Deutschland studieren zur-
zeit 50.000 an Hochschulen in den Fächern Architektur, Innen-
und Landschaftsarchitektur und Stadtplanung. Doch es gibt bei
Weitem nicht genug Fortbildungsangebote nach dem Studium.
Lebenslanges Lernen ist eben noch nicht angekommen in der
Immobilienbranche.
Deshalb ist mir auch etwas bang um diese neue Generation
der Schnellläufer voller Motivation und Talent, wie ich sie gerade
inKatowice kennengelernt habe. Die großen, weltumspannenden
Themen sind Migration, Energie und Digitalisierung. Auf allen
drei Feldern ist die Immobilienwirtschaft mitten im Gewühl.
Wir wissen noch gar nicht, was für Anforderungen an uns und
die nächste Generation gestellt werden. Aber ich vermute, dass
dadurch unsere Art zu leben, zu denken und zu arbeiten in die
Waschmaschine gerät. Wenn wir aber die großen Bildungsfragen
nicht entschiedener angehen, werden uns die Ideen fehlen, da
wieder rauszukommen.
Die Zahl der Studiengänge ist nicht das Problem. Aber die Fortbildungs-
angebote nach dem Studium reichen bei Weitem nicht. Lebenslanges
Lernen ist noch nicht angekommen in der Immobilienbranche.
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ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 mit Helge Schmidt gemeinsam das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.
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