Immobilienwirtschaft 12-1/2016 - page 35

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und schön und selbstverständlich folgen die Afrikaner in harmo-
nischemGleichmaß ihrenÜbungen. Beide Gruppen haben keine
Arbeit. Die einen sind vor Kurzemals Flüchtlinge angelandet, die
anderen gehören zu den 40 Prozent Jugendarbeitslosen in Italien.
Muskulöse Mamones, Bildhauer ihrer selbst, aufgewachsen
mit sich windenden, wohlgeformten Renaissance-Körpern in der
Loggia dei Lanzi und demWunsch nach körperlicher Schönheit,
Anerkennung, Lebenssinn. Sowohl die Italiener als auch die Se-
negalesen beabsichtigen nicht, in Italien zu bleiben. Willkommen
sein, Ausbildung, Arbeit haben, passenden Wohnraum finden
und Freunde gewinnen sind Teil auch ihres Lebenstraumes.
Nach der Erhebung von Gallup aus dem Jahr 2009 wollen
ungefähr 60 Millionen Menschen aus Zentral- und Südasien
ihre Heimat verlassen. Von den 360 Millionen Menschen im
arabischen Raum zwischen Marokko und Jemen will ein Viertel
nach Europa. Das sind heute ungefähr 90 Millionen.
Von den jungen Afrikanern wollen heute ungefähr 400Milli-
onen zu uns. Hochgerechnet auf 2050 wollen über eine Milliarde
Menschen nach Europa einwandern, sagt Gunnar Heinsohn von
der Universität Bremen. Diese Schätzungen sind noch vor den
großen Kriegen in Libyen, Syrien und dem Irak und vor dem
Preisverfall des Petroleums erhoben worden.
Länder wie die USA, Kanada oder die Schweiz haben auch
zu niedrige Geburtenraten und sind ebenfalls auf Einwanderer
angewiesen. Aber sie sichern ihre Grenzen und nehmen gnaden-
los nur die Besten, um wirtschaftlich vorne zu bleiben. Andere,
wie Deutschland, Frankreich oder Schweden, bekennen sich zu
denHilfsbedürftigen und halten ihre Grenzen offen. Die Zukunft
wird zeigen, wer klüger handelt.
Unabhängig von der Evaluierung stehen Fragen nach be-
schleunigtem städtischen Wachstum dringend zur Bearbeitung
an. Das ist ja per se auch nichts Bedrohliches. ImGroßraumTokio
leben schon heute fast 38 Millionen Menschen. Schwer vorstell-
bar: halb Deutschland in einer einzigen Stadt. Diese Megacity ist
12Mal so groß wie Berlin oder fast 60Mal so groß wie Frankfurt.
Im Zuge der Urbanisierung werden nach den World Urbaniza-
tion Prospects vieleMegastädte bis zum Jahr 2030 weiter deutlich
wachsen: der BallungsraumDelhi von heute 25 auf etwa 36Milli-
onen Einwohner, der Shanghais von derzeit 23 auf 30 Millionen.
Auch die Städte in Deutschland wachsen: Immer mehr
Menschen wollen in den Metropolregionen leben. Wie aus einer
Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln hervorgeht,
können Großstädte ab 500.000 Einwohnern mit deutlichem Zu-
zug rechnen. Besonders stark soll die Bevölkerung imGroßraum
München wachsen, und zwar um 24 Prozent auf 3,3 Millionen
im Jahr 2030. Berlin und Potsdam können zusammen mit einem
Bevölkerungszuwachs von 15 Prozent rechnen und kommen auf
über vier Millionen Einwohner. Das erscheinen gerade im Ver-
gleich mit den internationalen Riesen vorsichtige Vorhersagen.
Aber wie kann es nachhaltig, nachbarschaftlich, durchmischt,
integrativ, sozial verträglich, kostengünstig, kurzfristig und auf
der Höhe des aktuellen Kenntnisstandes bewältigt werden? Kann
es nicht. Natürlich werden die extrem hohen Ansprüche derzeit
krass unterlaufen. Trotzdemmuss gehandelt werden. Umgehend,
pragmatisch, kenntnisreich, selbstbewusst. Die Ziele sind klar:
dichter, schneller, günstiger, nachhaltiger und klüger bauen.
Im internationalen Vergleich erscheinen deutsche Städte
nicht besonders überfüllt. In Europa besitzt Paris mit 21.000 Ein-
wohnern/km² eine sehr hohe Bevölkerungsdichte. Die statistisch
am dichtesten besiedelte Großstadt in Deutschland ist München
mit 4.500 Einwohnern je km² vor Berlin (3.900 Einwohner/km²).
Deutschland hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine Phase
großer Veränderungen und Visionen erlebt. Die Reformen der
letzten Jahre zeigen, dass diese Gesellschaft mit ihren inklusiven
Institutionen, ihrer Offenheit und ihrem Mut auch zu größeren
Projekten fähig ist. Heute wissen wir so viel mehr über erfolg-
reiche Städte und ihre Planung als noch in den 50er und 60er
Jahren. Auch wenn zunächst einfach ein Dach über dem Kopf
gebraucht wird, es geht darüber hinaus umOrte für die inklusive
Gesellschaft. UmPlätze, die offen sind für unterschiedliche Grup-
pen und Teilhabe ermöglichen. Es geht um eine gesellschaftliche
Vision, um die durchmischte, pluralistische, offene Gesellschaft,
umdie Grundlage undKonstituierung unserer Zivilisation in den
Zeiten der großen Völkerwanderungen.
Auch die USA oder die Schweiz sind auf Einwanderer angewiesen. Aber sie
nehmen nur die Besten, um wirtschaftlich vorne zu bleiben. Andere Länder
halten ihre Grenzen offen. Die Zukunft wird zeigen, wer klüger handelt.
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ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 mit Helge Schmidt gemeinsam das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.
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