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INVESTMENT & ENTWICKLUNG
I
KOLUMNE
Heute trifftdie aktuelle Zuwanderungswelle die wohlstandsdeut-
sche Gesellschaft so unvorbereitet wie mich die Geschichte mei-
ner Großmutter. Zunächst die märchenhafte Verklärung: Wow,
wir sind ein so tolles Land, dass Menschen zuUNS kommen wol-
len! Wir sind Weltmeister und werden geliebt!!! Das Leben ist so
schön! Dann die erschreckende Erkenntnis, dass die romantische
Südseeinsel Bundesrepublik auch von brausenden, kalten, tie-
fen Meeren umgeben ist, in denen brutalste Kriege, grausamstes
Elend, Verachtung, Verbrechen, Armut, Hunger, Vertreibung und
Flucht, aber auch elendes Regieren und mangelnde wirtschaft-
liche Dynamik massenweise leidvolle Biografien prägen. Und
plötzlich bleiben diese bunten, leicht schauerlichen Elendsbilder
nicht mehr hinter denmedialen Oberflächen, sondern durchfur-
chen dieses wohlgeordnete und mit sich voll beschäftigte Länd-
chen wie ein führerloser Schneepflug das verschneite Tal.
Viel zu langsam wächst die Erkenntnis, dass sich gerade die
Spielregeln geändert haben. Eine neue Epoche hat begonnen. Un-
sere Städte wandeln sich unter den ungläubigen Blicken von den
kränkelnden, schrumpfenden Gebilden einer alternden Welt in-
nerhalb weniger Jahre zu attraktivenWeltstars. Kaumzu glauben,
aber 2008 war Berlin eine schrumpfende Stadt, noch 2009 war
das Zu- und Abwanderungssaldo für die Bundesrepublik negativ.
Szenenwechsel: Bei einer Radtour durch den Park delle Cas-
cine in Florenz treffe ich auf eine Fitnessgruppe von Senegale-
sen, die den neben ihr sportelnden italienischen Individualisten
zeigt, wie gemeinsam geübt wird. So groß und schlank und jung
A
ch, Omi, erzähl uns doch noch einmal von früher!“, war
unser vereinbartes Ritual, mit dem wir Kinder eine gemüt-
liche Stunde mit ihr einleiteten. Mit Schokolade oder Salz-
stangen ausgestattet, folgten wir immer wieder staunend ihren
Geschichten von dem märchenhaften Gutshof ihrer Jugend,
dem grausamen Krieg, der kommunistischen Enteignung und
Vertreibung, den Strapazen der Flucht und dem bescheidenen
Neuanfang im Westen. Die Szene, als sie mit ihren drei kleinen
Kindern als Einzige von Hunderten in der Nacht den russischen
Kontrollposten passieren konnte und auf der anderen Seite des
damaligen Grenzflusses Mulde auf dem Weg in den Westen vor
Glück und Erleichterung weinend auf die Knie fiel, schlug wie ein
zuckender Blitz in die wohlige Wärme meiner Kindheit.
Wie die Familien meiner Mutter und meines Vaters kamen
nach dem Zweiten Weltkrieg 12,5 Millionen Flüchtlinge aus den
Ostgebieten in das verkleinerte, zerstörte Deutschland. 1950 war
jeder vierte Einwohner der DDR Flüchtling oder Vertriebener.
Vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren fast 60
MillionenMenschen in Europa ihre Heimat. Die Ideologie zweier
totalitärer Systeme hatte sie zu Zwangsmigranten gemacht. Die
Aufnahme der vielfach traumatisierten Flüchtlinge, die häufig
nahezu ihre gesamte Habe verloren hatten, war unter den An-
sässigen im Einzelfall eher ruppig. Woher sollte in dieser harten,
kriegerischen, knorrigen Umgebung auch plötzlich Solidarität
mit den Schwachen undMittellosen kommen, mit denen zwangs-
verordnet Tisch und Dach geteilt werden musste?
Flüchtlinge
Foto: Dirk Weiß