personalmagazin 10/2017 - page 76

76
RECHT
_SCHEINSELBSTSTÄNDIGKEIT
personalmagazin 10/17
THOMAS MUSCHIOL
ist Rechtsanwalt
mit Schwerpunkt
Arbeits- und Sozial-
versicherungsrecht in
Freiburg.
„Ein magerer Vergleich ist besser als ein
fetter Prozess.“ Dieser Weisheit liegt die
Überlegung zugrunde, dass es angesichts
von Prozessaufwand und -kosten für die
Beteiligten oft die bessere Lösung ist,
sich auf ein einvernehmliches Ergebnis zu
einigen – auch wenn beide Seiten dabei
Abstriche vom jeweils für möglich gehal-
tenen Prozessergebnis machen. Anders
als bei arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten
– hier ist es sogar die gesetzliche Pflicht
des Richters, jederzeit auf eine gütliche
Einigung hinzuwirken – ist bei sozialversi-
cherungsrechtlichen Beitragsstreitigkeiten
ein Vergleich die absolute Ausnahme. Die
Begründung der DRV-Verantwortlichen
dafür leuchtet zunächst ein: Beitragsnach-
erhebungen sollen den Personen zufließen,
für die eine Versicherungspflicht besteht
und zu deren Lasten jedes Nachlassen im
Vergleichswege gehen würde. Aber bedeu-
tet dies ein Verbot für die Sozialversiche-
rungsbehörden, einer Prozessbeendigung
auch unter dem Aspekt einer vernünftigen
Abwägung zwischen Aufwand und Ertrag
zuzustimmen? Die Antwort ist eindeutig
Nein, wie auch die Vorschrift des § 74 Abs.
4 SGB IV zeigt. Danach kann die Einzugsstel-
le „einen Vergleich schließen, wenn dies für
die Einzugsstelle, die beteiligten Träger der
Rentenversicherung und die Bundesagentur
für Arbeit wirtschaftlich und zweckmäßig
Sonderfall Scheinselbstständigkeit
Aus guten Gründen kommt es bei sozialversicherungsrechtlichen Beitragstreitigkeiten
selten zu einem Vergleich vor Gericht. Dennoch lohnt sich diese Ausnahme manchmal.
ist.“ Bei der fiktiven Nachverbeitragung von
Scheinselbstständigen kommt als Argument
für einen sinnvollen Vergleich hinzu, dass
zwar die Beitragsbescheide vordergründig
konkreten Personen zugeschrieben werden,
es aber häufig gar nicht zu einer Zahlung
auf deren Beitragskonten kommt. Der dafür
erforderliche Meldeaufwand durch die
komplizierte Zuordnung jedes einzelnen
Beitragsmonats ist zu hoch, zuweilen gar
unmöglich. Hier zeigen sich die Sozialversi-
cherungsbehörden und Betriebsprüfer wie-
derum großzügig und erstellen sogenannte
Summenbeitragsbescheide, bei denen die
Beitragseinnahmen nicht den einzelnen
Scheinselbstständigen zugeführt werden.
KOMMENTAR
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an
Säumniszuschlag von eins vom Hun-
dert des rückständigen, auf 50 Euro
nach unten abgerundeten Betrags zu
zahlen“. Hierbei sollten Unternehmen
§ 24 Abs. 2 SGB IV bedenken: Säumnis-
zuschläge dürfen nicht gemeinsam mit
einer rückwirkenden Beitragserhebung
gefordert werden, „soweit der Beitrags-
schuldner glaubhaft macht, dass er
unverschuldet keine Kenntnis von der
Zahlungspflicht hatte.“
Auch hier gilt daher: Der Vortrag in
einem Sozialgerichtsverfahren, unter
welchen Bedingungen, von welchen
Personen und mit welchem Informa-
tionsstand eine Falschbeurteilung er-
folgt ist, kann zwar den Vorwurf einer
Scheinselbstständigkeit und damit die
Statusfeststellung nicht beeinflussen.
Das subjektive Nichtverschulden kann
jedoch dazu führen, dass sich die Bei-
tragsschuld um die – teils erheblichen
– Säumniszuschläge mindert.
Schlusskontrolle: SGB V oder SGB IV?
Wenn weder hinsichtlich der Statusbe-
urteilung noch bezüglich der rückwir-
kenden Beitragserhebung Erfolg ver-
sprechende Ansätze für ein Vorgehen
gegen den Betriebsprüfungsbescheid
ersichtlich sind, kann sich ein Blick auf
die Zusammensetzung der Beitrags-
schuld – im Hinblick auf darin enthal-
tene Beiträge zur gesetzlichen Kran-
kenversicherung – lohnen. Der Grund:
Die Betriebsprüfer entscheiden im Sta-
tusfeststellungsteil des Bescheids über
die Frage eines versicherungspflichti-
gen Beschäftigungsverhältnisses nach
§ 7 SGB IV. Sie entscheiden jedoch nicht
darüber, ob eine Versicherungspflicht
im Sinne des SGB V vorliegt. Diese
wiederum ist Voraussetzung für die im
Beitragsbescheid konkret festgesetzten
Beitragsanteile.
Übersehen wird dabei durchaus mal,
dass es aufgrund von Spezialvorschriften
des SGB V an der Versicherungspflicht
zur gesetzlichen Krankenversicherung
fehlt. Dies kann bei der Bewertung eines
Scheinselbstständigen unter anderem
bei diesen Konstellationen vorkommen:
•Der Scheinselbstständige hat neben
seiner vermeintlich selbstständigen Tä-
tigkeit ein reguläres Beschäftigungsver-
hältnis. Deshalb hat er entweder schon
dort oder im Wege der Zusammenrech-
nung mit der Scheinselbstständigkeit
Einkünfte oberhalb der Jahresentgelt-
grenze und ist somit gar nicht versiche-
rungspflichtig (§ 5 SGB V).
•Der Scheinselbstständige ist in einer
privaten Krankenversicherung, hat
sich in der Vergangenheit schon ein-
mal erfolgreich von der Krankenver-
sicherungspflicht unwiderruflich be-
freien lassen (§ 8 SGB V) oder ihm ist
die Rückkehr in die Gesetzliche wegen
Überschreitung der Altersgrenze von 55
Jahren verwehrt (§ 6 Abs. 3 a SGB V).
•Der Scheinselbstständige ist hin-
sichtlich anderer Tätigkeiten unstreitig
selbstständig. Möglicherweise ist er
deshalb als „hauptberuflich Selbststän-
diger“ nicht versicherungspflichtig (§ 5
Abs. 5 SGBV).
THOMAS MUSCHIOL
ist Rechtsanwalt mit
Schwerpunkt Arbeits- und Sozialversiche-
rungsrecht in Freiburg.
1...,66,67,68,69,70,71,72,73,74,75 77,78,79,80,81,82,83,84,85,86,...92
Powered by FlippingBook