personalmagazin 04/2016 - page 82

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RECHT
_KRANKENVERSICHERUNG
personalmagazin 04/16
aus einer Darlegungsnot des Arbeitge-
bers heraus. Allein die Aussage, dass
man die Versicherungspflicht „immer
sehr sorgfältig prüft“, wird selten helfen.
Kann aber auf schriftliche Vermerke aus
der Lohnakte zurückgegriffen werden,
ist die Aussage, man habe rechtlich „al-
les richtig“ gemacht, wie Juristen sagen,
„substanziell“ vorgetragen. Übrigens:
Nicht nur zum Zeitpunkt der erstmaligen
Festlegung einer Versicherungsfreiheit,
auch bei der jährlichen Anpassung der
Jahresarbeitsentgeltgröße und bei Ände-
rungen des Arbeitsverhältnisses sollte
sich aus der Personalakte ergeben, dass
der Sachbearbeiter eine erneute Schät-
zung durchgeführt hat.
Echte Rechtsfehler sind kein Irrtum
Von den Prognosefehlern streng zu un-
terscheiden sind Irrtümer darüber, wel-
che Entgeltbestandteile zum regelmäßi-
gen Arbeitsentgelt gehören. Nicht alles,
was voraussichtlich (und später auch
tatsächlich) gezahlt wird, darf in die Be-
urteilung des JAG-Einkommens einbezo-
gen werden. Das kann dazu führen, dass
bei einer Betriebsprüfung in der nach-
schauenden Betrachtung das tatsächlich
gezahlte Entgelt zwar über der Jahresar-
beitsentgeltgrenze liegt, es aber fiktiv
gekürzt wird, weil Zahlungen enthalten
sind, die nicht als „regelmäßig“ akzep-
tiert werden. Nun ist leider die Definiti-
on, welche Zahlungen in diesem Zusam-
menhang „regelmäßig“ sind, nicht im
Gesetz zu finden. Stattdessen wird dem
Arbeitgeber aufgegeben, dies anhand
der einschlägigen Rechtsprechung und
den darauf basierenden Verwaltungs-
anweisungen selbst zu ergründen. Wie
bei jeder Rechtsanwendung aus dem
Bereich der Sozialversicherungspflich-
ten gilt hier: Der Arbeitgeber hat das
Recht zu kennen und muss sich inso-
weit selbst schlau machen, welche Ent-
geltbestandteile „nicht“, welche „noch“
und welche „manchmal“ von Verwal-
tung und Rechtsprechung als Entgelt
im Sinne einer Entscheidung über die
Versicherungsfreiheit akzeptiert wer-
den. In der Praxis werden Überstun-
denvergütungen von der Verwaltung zu-
nächst nicht als regelmäßige Zahlungen
akzeptiert. Der Nachweis, dass sie im
Einzelfall doch einmal einzurechnen
sind, wird jedoch zugelassen, wenn sich
die Regelmäßigkeit in der Zahlung einer
vertraglichen pauschalen Abgeltung
manifestiert. Einmalzahlungen sollen
nur dann einrechenbar sein, wenn da-
rauf ein Rechtsanspruch besteht, wobei
dieser auch in Form einer betrieblichen
Übung akzeptiert wird. Gerade letzteres
Beispiel zeigt die Bredouille auf, in der
sich Arbeitgeber bewegen, auch über
die Frage, was betriebliche Übung ist,
kann man sich trefflich streiten.
Mit anderen Worten: Wenn die Ein-
stufung als versicherungsfrei davon
abhängt, ob Zahlungen außerhalb des
vertraglichen Grundgehaltes einschließ-
lich klarer Rechtsansprüche auf Sonder-
zahlungen einbezogen werden, sollte
man entweder diese Faktoren vorsichts-
halber rausnehmen und im Zweifel
Versicherungspflicht annehmen oder zu-
mindest den Praxistipp oben beachten.
Die kritischen Fälle herausfiltern
Sie müssen nun nicht für jeden Fall
zum Thema JAG-Überschreitung peni-
bel Schätzvermerke anfertigen und die
Einzugsstelle mit vorsorglichen Anfra-
gen bombardieren - beschränken Sie
Ihre Bürokratie auf die wirklich kriti-
schen Fälle. Das sind zum einen die, in
denen ein Mitarbeiter schon in einer
privaten Krankenversicherung ist und
die Entscheidung, ob das so bleiben
kann, Jahr für Jahr neu zu treffen ist,
und zum anderen die Fälle, bei denen
Mitarbeiter erstmalig eine private
Krankenversicherung wählen. Fragen
Sie Ihre Mitarbeiter, ob sie Derartiges
vor haben. Hier ist Bürokratie ange-
sichts des hohen Risikos von Nachzah-
lungsverpflichtungen gerechtfertigt.
Ist dagegen klar, dass ein Mitarbeiter
entweder pflichtversichert ist oder aber
eine freiwillige Mitgliedschaft in der ge-
setzlichen Krankenversicherung wählt,
mag das zwar rechtlich gesehen immer
noch ein wesentlicher Unterschied sein.
Dass hier aber eine Fehlbeurteilung mit
rückwirkenden Beitragsbescheiden „be-
straft“ wird, können Sie definitiv aus-
schließen.
Eine verbindliche Anrufungsauskunft gibt es in der Sozialversicherung nicht, trotzdem
gibt es eine Möglichkeit, Zweifel bei der Schätzung im Vorfeld abzuklären.
Geht es um die Beurteilung von unbestimmten Rechtsbegriffen, so kann eine Falschbe-
urteilung fatal sein. So auch bei der Frage, ob eine bestimmte Zahlung bei der Beurtei-
lung der Versicherungsfreiheit mitzählt. Über den folgenden eleganten Umweg kann
zumindest eine Risikominimierung und in vielen Fällen sogar eine Sperrwirkung für
rückwirkende Beitragserhebungen erreicht werden:
Sie erfragen bei der für den Mitarbeiter zuständigen Einzugsstelle, ob Sie eine be-
stimmte Entgeltart in die Schätzung des Jahresarbeitsentgeltes einbeziehen können.
Nach § 28h Abs. 2 SGB IV ist die Einzugsstelle zur Auskunft verpflichtet, worauf die
Rechtsprechung immer wieder ausdrücklich hinweist. Bekommen Sie hier grünes Licht,
kann zwar ein Betriebsprüfer später anderer Auffassung sein. Der Auskunftsbescheid
der Einzugsstelle nützt Ihnen im Regelfall gleichwohl, da dieser als Verwaltungsakt erst
aufgehoben werden muss und auch bei einer rechtmäßigen Aufhebung im Regelfall für
die Vergangenheit gemäß § 45 SGB X Vertrauensschutz auslöst.
Die Einzugsstelle mit ins Boot nehmen
PRAXISTIPP
THOMAS MUSCHIOL
ist Fachautor und
Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Arbeits-
und betrieblichen Sozialversicherungsrecht.
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