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RECHT
_TARIFBINDUNG
personalmagazin 07/15
S
pätestens seit den monatelang
andauernden Arbeitskämpfen
bei Deutscher Bahn, Lufthansa
und in Kitas ist klar: Deutsch
land ist zur Streiknation geworden.
Nachdem das BAG den Grundsatz der
Tarifeinheit aufgegeben hat, häufen sich
Streiks kleiner Spartengewerkschaften,
die meist hohe Tarifforderungen stellen.
Dann lassen sich Tarifkonflikte oft nur
nach harten und kostspieligen Verhand
lungen beenden.
Diese Entwicklung kannUnternehmen
durchaus auf den Gedanken bringen, ih
re bisherige Tarifbindung abzustreifen.
Für eine sogenannte „Tarifflucht“ müs
sen Arbeitgeber jedoch bestimmte recht
liche Voraussetzungen beachten.
Austritt aus dem Verband
Als naheliegendes Mittel erscheint der
Austritt aus dem Arbeitgeberverband.
Mit Ende der Verbandsmitgliedschaft
erlischt grundsätzlich auch die Tarifge
bundenheit des Arbeitgebers. Dennoch
ist der Verbandsaustritt nur bedingt
ein geeignetes Mittel, um sich von
bisherigen tarifvertraglichen Ansprü
chen der Mitarbeiter flexibel zu lösen.
Aufgrund der Nachbindung nach § 3
Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (TVG) bleibt
der Arbeitgeber – trotz Austritts – an
den Tarifvertrag gebunden, bis dieser
selbst tatsächlich beendet wird. Dies
bedeutet, dass ein Tarifvertrag für den
Arbeitgeber fortwirkt, solange er nicht
durch Zeitablauf, Kündigung oder
inhaltliche Änderung endet. Der aus
Von
Philipp Byers
dem Verband ausgetretene Arbeitgeber
hat damit keine Möglichkeit, das Ende
der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG
selbst herbeizuführen.
Auch nach Ablauf der Nachbindung
kann sich der Arbeitgeber jedoch nicht
ohne Weiteres von bisherigen tarifver
traglichen Ansprüchen hinsichtlich der
bestehenden Arbeitsverhältnisse lösen.
Wegen der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5
TVG gelten die Regelungen des Tarifver
trags weiter, bis sie durch eine andere
Abmachung ersetzt werden. Regelmä
ßig wird der Arbeitgeber die Ablösung
tarifvertraglicher Ansprüche nicht ein
seitig erreichen können, da eine Ände
rungskündigung meist unwirksam sein
wird. Auch werden die tarifvertraglichen
Regelungen regelmäßig nicht durch Be
triebsvereinbarungen abbedungen wer
den können, da dem die Sperrwirkung
des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsge
setz (BetrVG) entgegensteht.
In der Praxis löst sich der Arbeitge
ber von bisherigen tarifvertraglichen
Ansprüchen meist durch eine einver
nehmliche Vertragsänderung mit dem
Arbeitnehmer. In größeren Unterneh
men ist dies erfahrungsgemäß schwie
rig, da die Vertragsänderung mit jedem
einzelnenMitarbeiter vereinbart werden
muss. Außerdem wird der Arbeitgeber
– sofern er sich nicht auf eine schlech
te wirtschaftliche Lage berufen kann –
den Mitarbeitern regelmäßig alternative
Leistungen anbieten müssen, um einen
Verzicht auf tarifvertragliche Ansprüche
zu erreichen. Hinsichtlich neu einge
stellter Arbeitnehmer gilt die Nachwir
kung nach § 4 Abs. 5 TVG nicht, sodass
der Arbeitgeber bei neuen Arbeitsver
hältnissen tarifvertragliche Leistungen
problemlos ausschließen kann.
Wechsel des Verbands
Eine weitere Möglichkeit für Unterneh
men, die bisherige Tarifbindung abzu
streifen, bietet ein Verbandswechsel.
Dies geschieht regelmäßig dadurch,
dass der Arbeitgeber – zum Beispiel
durch eine Veränderung der Geschäfts
tätigkeit – aus dem bisherigen bran
chenmäßigen tariflichen Geltungsbe
reich herauswächst und einem anderen
Arbeitgeberverband beitritt. In solchen
Fällen gelten die Regelungen des bis
herigen Tarifvertrags im Rahmen der
Nachwirkung zwar gemäß § 4 Abs. 5
TVG weiter. Kommt es allerdings in
dem neuen tariflichen Geltungsbereich
zu einem Tarifvertragsabschluss, kann
dieser den bisherigen Tarifvertrag als
andere Abmachung ablösen, sofern es
nicht zu einem rechtlichen Nebeneinan
der von altem und neuem Tarifvertrag
kommt.
Der bisherige Tarifvertrag kann aller
dings weiter auf Mitarbeiter Anwendung
finden, soweit in deren Arbeitsverträgen
Fluchtwege aus dem Tarif
ÜBERBLICK.
Manche Unternehmen liebäugeln damit, sich von der bestehenden Tarif
bindung zu lösen. Die Möglichkeiten dazu sind jedoch begrenzt und rechtlich diffizil.
Fachbeitrag
Arbeits- und Tarifvertrag: Ein-
zelvertragliche Bezugnahme (HI3446513)
Die Arbeitshilfe finden Sie im Haufe
Personal Office (HPO). Internetzugriff:
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