wirtschaft und weiterbildung 1/2019 - page 47

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wirtschaft + weiterbildung
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wünscht erlebt), deren Entstehung sowie
Beseitigung zu ergründen. Beispiel: Was
ist eine Depression? Wie und warum
entsteht sie? Wie können wir Menschen
helfen, sich davon zu befreien? Dahinter
steht, analog zur körperbezogenen Medi-
zin, ein pathogenetischer Denkrahmen,
welcher in einen Dreiklang aus Anam-
nese, Diagnose und kurativem Verfahren
mündet. Dieser fokussiert auf den Weg
von einem Ausgangspunkt im Minusbe-
reich des Erlebens in Richtung Null/neu-
tral.
Bereits in den 1970er-Jahren wurde dieser
Ansatz kritisch hinterfragt. Der israelisch-
amerikanische Arzt Aaron Antonovsky
prägte als Komplementärbegriff zur Pa-
thogenese den Ausdruck Salutogenese.
Folglich stand eine neue Frage im Raum:
Wie entsteht Gesundheit – und wie kön-
nen wir Menschen von einem normalen
(nicht kranken) Zustand zu einem Zu-
stand der aktiven Gesundheit verhelfen?
Die Positive Psychologie folgt als Diszi-
plin dieser salutogenetischen Grund-
haltung. Positive Psychologen eint die
Überzeugung, dass die Psychologie als
Disziplin zwar einen eminent wichtigen
Dienst erfüllt, wenn sie Menschen hilft,
sich von psychischen Störungen zu be-
freien. Allerdings steht eine Frage im
Raum: Lässt sich der Zustand des Nicht-
eingeschränkt-Seins bereits als gelunge-
nes Leben bezeichnen? Die Antwort von
Seligman und seinen frühen Mitstreitern
lautete: Nein! Sie wollten besser verste-
hen, was da, also positiv, gegeben sein
sollte, damit man von einem gelungenen
Leben sprechen kann. Die Positive Psy-
chologie ist demnach als Erweiterung des
Blickwinkels gedacht worden, nicht als
Ersatz für bestehende Teildisziplinen.
Wie üblich bei einer neuen Forschungs-
disziplin, die auf großes Interesse stößt,
bildeten sich schnell Unterströmungen
heraus. Es gibt Forscher, die den Nutzen
der Positiven Psychologie in der Bildung
erforschen. Andere untersuchen ihren
Nutzen für Coaching, persönliche Ent-
wicklung oder im Sport. Naturgemäß gibt
es mittlerweile auch eine hohe Zahl an
Professoren, die sich auf die Erforschung
der Positiven Psychologie in Organisatio-
nen – zum Beispiel im Rahmen von Per-
sonalentwicklung – fokussieren. In dieser
Hinsicht entstand zu Anfang des Jahrtau-
sends ein fruchtbarer Dialog mit aufge-
schlossenen Wirtschaftswissenschaftlern
und Soziologen, die ebenfalls vom salu-
togenetischen Ansatz fasziniert waren.
Diese Disziplin wird heute Positive Orga-
nizational Scholarship genannt und bildet
auch die Grundlage meiner Vorträge und
Workshops.
2 Replik zur Kritik an der
Positiven Psychologie
Vorwurf 1:
Unwissenschaftlichkeit.
Diese Aussage ist nicht haltbar. Die Posi-
tive Psychologie ist eindeutig in den regu-
lären Wissenschaftsbetrieb eingebunden.
Sie wird weltweit von – wie einleitend
erwähnt – zum Teil außergewöhnlich
arrivierten Wissenschaftlern weiterent-
wickelt. Stand heute gibt es über 2.000
empirische und theoretische Fachartikel,
die unmittelbar der Positiven Psycholo-
gie zugerechnet werden können. Hinzu
kommt eine hohe Zahl an früheren For-
schungsarbeiten, auf die sich die Positive
Psychologie bezieht. Man kann sicherlich
die Qualität einzelner Arbeiten kritisch
hinterfragen (was in der akademischen
Foto: Gaye Gerard / GettyImages
Austausch.
Der Dalai Lama (links) lud
im Jahr 2009 Martin Seligman und 40
weitere Wissenschaftler ein, auf der
Konferenz „The Mind & Its Potential“
zu sprechen.
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