wirtschaft und weiterbildung 2/2018 - page 44

training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
02_2018
R
ihm Widerstand entgegenzubringen? Wie
fühlt es sich an, wenn ich es einfach mal
so sein lasse? Es gibt vielleicht keine Lö-
sung dafür, aber vielleicht finde ich einen
Platz, wohin ich es für eine Weile stellen
kann, damit es nicht meinen ganzen Be-
wusstseinsraum einnimmt.
Erst nach diesen beiden Schritten kommt
das „Loslassen“. Dies ist keine aktive
Handlung. Manchmal wollen Dinge ein-
fach nur unsere Beachtung und Aufmerk-
samkeit und dann lassen die Themen uns
los. Manchmal sehen wir, dass uns noch
etwas fehlt, bevor wir bereit sind – ein
klärendes Gespräch, ein bisschen Zeit,
um etwas zu verdauen, eine Alternative
zum Alten, einen Plan für das Neue. Und
manchmal können wir einfach gar nichts
weiter tun.
Wie auch immer die Antwort aussieht:
Hinter ihr steht die Sehnsucht nach mehr
Vertrauen. Ein Vertrauen, wie der tsche-
chische Künstler und Politiker Vaclav
Havel es beschreibt: „Vertrauen ist nicht
die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,
sondern die Gewissheit, dass es gut ist,
egal wie es ausgeht.“ Das heißt: Wir sol-
len nicht darauf vertrauen, dass unsere
Erwartungen erfüllt werden, sondern da-
rauf, dass wir damit umgehen können,
wenn sie nicht erfüllt werden. So lassen
wir auch die Erwartungen los – so gut es
eben geht.
Ausflug in die Coaching-Praxis
An dieser Stelle macht ein kleiner Aus-
flug in die menschliche Psychodynamik
und in die Coaching-Praxis Sinn. Jemand,
der Angst vor dem Loslassen hat und es
durch Halten-Müssen ersetzt, versucht
sein Gefühl der Ohnmacht, sich selbst
in der Unsicherheit der Welt nicht hal-
ten zu können, mit viel Aktivität über-
zukompensieren. Halt kann man jedoch
nicht „machen“. Er entsteht nicht durch
Aktivität. Für so jemanden ist es nicht
möglich, Schwäche zu zeigen und jede
Form der Bedürftigkeit wird als Abhän-
gigkeit und deshalb als Schwäche ange-
sehen und nicht akzeptiert. Die Person
wirkt nach außen hin stark und unab-
hängig. Aufgrund ihrer typischerweise
mit dem Haltenwollen einhergehenden,
unbewussten Angst vor Nähe (da Nähe
weniger kontrollierbar ist als Distanz)
werden andere überhaupt nicht oder nur
wenig beansprucht. So ist es üblich, dass
Bedürfnisse, die jemand selbst befriedi-
gen kann, gefördert und solche, für die
man andere braucht, gehemmt werden.
Es erscheint unplausibel, dass andere mit
Freude etwas für einen tun könnten. Dass
so ein Verhalten in existenzielle Einsam-
keit führt, wird ignoriert.
Als Coach unterstütze ich solche Per-
sonen dabei, dass ihnen diese Psycho­
dynamik bewusst wird. Ich zeige erstens,
welche enorme Anstrengung damit ver-
bunden ist, Ohnmacht zu verhindern und
wie „hart“ so jemand nach außen wirken
kann. Zweitens mache ich klar, welche
Ängste im Spiel sind und des Weiteren
welche Folgen damit verbunden sind,
nichts von anderen annehmen zu kön-
nen. Dies löst in der Selbstwahrnehmung
in der Regel Betroffenheit aus – ein wich-
tiger Gegenpol zu Aktionismus. Dem Kli-
enten wird zu mehr Selbstverantwortung
verholfen. Ihm wird klar, dass er (unbe-
wusste) Motive hat, die Welt so zu sehen,
wie er sie sieht. Jeder ist für die Art, wie
er sich betroffen fühlt, sowie für die Ent-
scheidung, wo er Einfluss nehmen will,
selbst verantwortlich.
Kommen die Ängste, die nicht mehr
durch Tun und Impulse von außen über-
deckt werden, während des Coachings in
den Vordergrund, wird häufig ein Gefühl
von Leere prägnant. Der Klient kann seine
innere Dynamik besser verstehen. All das
führt zu mehr Akzeptanz und was sein
darf, wie es ist, kann sich verändern. Mit
erhöhter Wahlfreiheit, wie jemand denkt,
fühlt und sich verhält, kann so nach und
nach ein sicherer Umgang mit der Unsi-
cherheit der Welt aufgebaut werden.
Formen des Loslassens
Welche Formen kann gelungenes Los-
lassen annehmen? Die Formen des Los-
lassens können sich unterscheiden und
hängen davon ab, wie bedeutend und
wichtig etwas ist. Eine Form heißt: Vor
dem Loslassen etwas noch einmal ganz
festhalten, weil so der Unterschied zwi-
schen An- und Entspannung deutlicher
und bewusster wird. Es geht jedoch nicht
immer um ein schlagartiges Loslassen,
denn ein zu plötzliches Loslassen könnte
Verrat an der Seite bedeuten, die (noch)
festhält und die dafür einen guten Grund
hat. Es braucht beide Seiten im Austausch
und Dialog miteinander. Erst wenn beides
sein darf, kann Neues entstehen. Und das
darf dauern, solange es braucht. Wenn es
nur einen Augenblick braucht loszulas-
sen, dann kann es sein, dass man zuvor
nie wirklich festgehalten hat – an einem
Traum, einem Ziel, einem Ort, einer Per-
son. Denn sonst würde man nach und
nach loslassen. Man lässt ein wenig los,
dann hält man wieder fest, aber mit ein
bisschen weniger Kraft – solange, bis man
sich völlig freigibt. Und je fester man ge-
halten hat, desto mehr Kraft lässt man
damit los. Je tiefer man eintaucht, desto
höher wird man fliegen. Je näher man
kommt, desto weiter wird man weggezo-
gen. Je schwächer man sich fühlt, desto
stärker wird man. Man muss lernen sich
selbst zu lieben, sich zu verstehen, an
sich zu glauben. Jedes Loslassen gestaltet
sich individuell.
Manchmal ist es auch mehr ein ganz un-
bemerktes Entgleiten. Erst einige Zeit spä-
ter wird einem bewusst, dass man schon
losgelassen hat, ohne einen genauen ein-
zelnen Zeitpunkt nennen zu können. Eine
weitere Form ist ein nicht vollständiges
Loslassen, sondern (sofern sinnvoll) man
nimmt das, was einem wichtig ist, bei der
Veränderung mit. Es wird in neues Licht
gestellt. Im Fall des Anfangsbeispiels
könnte die Unternehmerin zukünftig als
Inhaberin noch im Hintergrund agieren
und eine Geschäftsführerin einstellen. So
würde sie ihre bisherige Rolle aufgeben,
aber nicht das ganze Geschäft, das sie
aufgebaut hat. Meist stellt sich nach dem
Loslassen ein Gefühl der Erleichterung
ein. Ein solcher Moment kommt, wenn
die Zeit dafür reif ist.
Fazit.
Es geht nicht darum, dass die Leser
dieses Artikels nun alles leichter loslas-
sen können. Sie sollten sich vielmehr
dem Loslassen annähern, neue Perspek-
tiven einnehmen und gnädiger auf sich
schauen, wenn ihnen das Loslassen
schwerfällt. Einmal erworbene Überzeu-
gungen loslassen kann man dann beson-
ders gut, wenn man die Erfahrung ge-
macht hat, wie beglückend es ist, sich auf
das Abenteuer des Lebens, auf die Lust
am eigenen Entdecken und die Freude am
eigenen Gestalten einzulassen.
Christina Geiger
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