wirtschaft und weiterbildung 2/2018 - page 43

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wirtschaft + weiterbildung
02_2018
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Warum erscheint uns das Loslassen oft
so schwer? Jeder kann loslassen. Jeder
Mensch atmet ein und aus und ein und
aus …! Wir lassen den Atem beim Aus-
atmen los. Außer unserem Atem, kön-
nen wir Gegenstände, Gedanken, andere
Menschen und Beziehungen, Pläne und
Vorhaben, Erinnerungen, Sorgen um Job
oder Gesundheit, Selbstzweifel und vieles
mehr festhalten sowie loslassen. Das ge-
lingt mal leichter, mal schwerer. Manch-
mal scheint das, was wir gerne los wären,
je mehr Widerstand wir ihm entgegen-
bringen, umso mehr bei uns bleiben zu
wollen.
Ich habe den Eindruck, dass das Loslas-
sen umso schwerer ist, je mehr für mich
persönlich bedeutende Erinnerungen
und intensiv erlebte Emotionen damit
verbunden sind. Dies kann zum Beispiel
der Stolz darauf sein, etwas geschafft
zu haben, obwohl es nicht einfach war.
Oder Freude über gemeinsame Erlebnisse
mit einem guten Freund bis hin zu Liebe
und tiefen Begegnungen in Beziehungen.
Aber auch Trauer, wenn man noch nicht
bereit ist zu akzeptieren, dass ein gelieb-
ter Mensch nicht mehr da ist. Oder ein
besonderer Ort, den es zu verlassen gilt.
Festhalten kann Menschen
Stabilität geben
„An etwas festhalten“ kann Menschen
Stabilität geben. Sie ist in unserer Psyche
immer dann von Bedeutung, wenn man
Kontrolle über etwas behalten will (Wir
erinnern uns, dass „die Kontrolle haben“
eine Bedeutung von loslassen sein kann).
Die Angst vorm Loslassen hält uns davon
ab, die Kontrolle aufzugeben. Nun ist es
aber so, dass sich die Welt um uns herum
permanent ändert. Loslassen ist somit
eine natürliche Antwort auf die Unsicher-
heiten der Welt.
Aufgrund unserer Erfahrungen können
jedoch Ängste ans Loslassen gekoppelt
sein – zum Beispiel heißen solche Ängste:
„Wenn ich loslasse, dann falle ich ins
Leere“ oder „… dann muss ich das zu-
rückzahlen“ oder „… dann werde ich do-
miniert“ oder „… dann erkenne ich, wie
einsam und verlassen ich bin“ oder „…
dann werde ich unter der Brücke verhun-
gern“. Mit diesen Ängsten fällt das Loslas-
sen folglich schwer. Wir wünschen uns
dann Kontrolle und suchen nach Halt für
Stabilität. Wird Loslassen durch „Halten-
Müssen“ ersetzt, entwickeln wir unter-
schiedliche Lösungen – jedoch keine, die
uns guttun. Wir geraten in „Über“-Auto-
nomie und haben Angst vor Abhängig-
keit, wir werden distanziert aufgrund der
Angst vor Berührung, wir zeigen Härte
und wollen nicht verlieren, wir werden
starrsinnig und fixieren emotional auf
Ziele, wir entwickeln eine Vorliebe, an-
dere zu stützen und ihnen zu helfen, wir
sind häufig chronisch verspannt oder
haben Angst vor dem Tod.
Wie kann Loslassen letztlich
doch gelingen?
Was brauchen wir, um loslassen zu kön-
nen? Bei schmerzlichen Gefühlen ist es
wichtig zu unterscheiden, ob die Zeit
des Loslassens reif ist oder ob Loslassen
nur ein Versuch ist, Kontrolle über die
Gefühle zu erlangen. Das wäre genauso
falsch, wie die Gefühle zu verdrängen,
sie wegzudrücken, sich abzulenken.
Mit inneren Appellen („Lass’ jetzt los!“)
funktioniert es nie. Das ist nur, wenn
überhaupt, eine zeitweise Manipulation,
bis das Gefühl mit voller Wucht wieder
zurückkommt. Die richtige Art des Los-
lassens – eine, die funktioniert – geht
anders. Loslassen heißt nicht loswerden,
sondern „da sein“ lassen.
Der buddhistische Mönch Ajahn Brahm
schlägt folgenden Satz vor: „Schmerz, die
Tür zu meinem Herzen steht Dir offen,
ganz gleich, was Du mir antust … und
ganz gleich, wie lange Du es mir antust
– wenn es so sein soll, mein ganzes rest-
liches Leben.“ So bekommt der Schmerz
ein Bleiberecht. Scheinbar paradoxer-
weise wird er gerade dann viel eher
wieder abreisen. Denn worum es ihm
wirklich geht, was er wirklich will, ist die
uneingeschränkte Einladung und Freiheit.
Er will gar nicht für immer bleiben, son-
dern nur die Erlaubnis haben, da sein zu
dürfen. Wenn es um ein gesundes Los-
lassen geht, aber (wie oben beschrieben)
Ängste daran gekoppelt sind, dann lohnt
es zunächst einmal, die Angst und ihren
Grund aufzuspüren.
Was befürchtet man, wenn man loslässt?
Die Angst zuzulassen, sodass sie da sein
darf - das braucht es, wenn man sie über-
winden will. Es kann sogar sein, dass die
Angst gar nicht mehr so bedrohlich wirkt,
wenn man ihr die Erlaubnis gibt, näher-
zukommen.
Für Tim Schlenzig, Mediationsexperte
und Blogger
st
„Kommenlassen“ die erste Stufe zum
„Loslassen“. Das Thema, das wir eigent-
lich loslassen wollen, sollten wir einla-
den, in unseren Bewusstseinsraum zu
treten – und zwar vollständig, mit einem
ehrlichen Interesse, es kennenlernen zu
wollen, ganz freundlich und ohne Wider-
stand. Das Thema darf sich Raum neh-
men, da sein, sich melden, sich fühlen
lassen mit allem, was es mitbringt. Wir
sind weder zugeneigt noch abgeneigt,
sondern lassen es so sein, wie es gerade
ist. Was ist das Ding und wie heißt es?
Was daran ist bedrohlich? Hat es mir
etwas zu sagen? Ist es immer gleich oder
ändert sich etwas daran, wenn es einfach
nur da sein darf?
Der nächste Schritt ist dann nach Schlen-
zig das „Seinlasen“. Manchmal verändert
sich die Sicht auf ein Thema durch das
einfache „Seinlassen“. Es bekommt viel-
leicht neue Gesichter, die man noch nicht
kannte. Ist es wirklich so bedrohlich? Gibt
es andere Wege, damit umzugehen, außer
Christina Geiger
hat eine Coa-
ching-Ausbildung
(DBVC-zertifiziert)
beim Hephais-
tos Coaching Zentrum München und
eine Methodenausbildung in syste-
mischer Transaktionsanalyse (DGTA)
bei Professio in Ansbach absolviert.
Sie nutzt einen integrierten Coaching-
und Beratungsansatz, um Personen,
Teams und Organisationen zu unter-
stützen. Im Hauptberuf arbeitet Gei-
ger als interne Organisationsberaterin
bei der ZF Friedrichshafen AG. Zuvor
war sie Management Consultant bei
der BASF SE.
Christina Geiger
Schöneckstraße 30-4
88069 Tettnang
AUTORIN
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