wirtschaft und weiterbildung 6/2018 - page 43

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wirtschaft + weiterbildung
06_2018
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Siegergruppe.
Das Foto zeigt alle drei Gewinner des neuen „Senss-Awards“. Ganz
rechts steht der Initiator, der Essener Unternehmer Reinhard Wiesemann.
Geldsegen.
Siegerin Selly Wane (rechts) will ihr Preisgeld in neue Projekte
investieren. Insgesamt wurden 20.000 Euro unter den drei Gewinnern verteilt.
• Menschen mit rechtsradikaler Gesin-
nung sind vom Treffen ausgeschlossen
• der belastete Name „Bürgerwehr“ wird
geändert
• ein Polizist oder ein Sozialarbeiter wird
als Berater akzeptiert
• das Gewaltmonopol des Staats wird an-
erkannt.
Die Gruppe der „besorgten Bürger“, die
in Sachen Sicherheit zur Selbsthilfe grei-
fen wollte, akzeptierte diese Bedingungen
in vollem Umfang. Zur Gründungsver-
sammlung kam es dann aber doch nicht
– möglicherweise, weil sich die Akteure
zerstritten, möglicherweise, weil im Vor-
feld Polizei und Sozialarbeiter vernünf-
tige Gegenargumente gegen jede Art von
„Bürgerwehr“ ins Spiel brachten.
Trotzdem wurden von überwiegend lin-
ken Gruppen Gerüchte gestreut, im Un-
perfekthaus würden sich jetzt regelmäßig
die „Rechten“ treffen. Es gab nicht nur
einen Shitstorm in den sozialen Medien,
sondern auch gewalttätige Demonstra-
tionen samt Polizeieinsatz vor dem Un-
perfekthaus. Die Mitarbeiter des Unper-
fekthauses mussten sich vor massiven
Übergriffen schützen und „linke“ Politi-
ker drohten mit einem offiziellen Boykott-
Aufruf, sollte „der Wiesemann nicht zur
Vernunft kommen“.
Wiesemann war entsetzt. Plötzlich waren
er und seine Mitarbeiter die Steigbügel-
halter des Faschismus und Opfer von
nicht nachvollziehbaren Aggressionen. Er
überlegte mit seinem Team ein Jahr lang,
was man prinzipiell gegen die Ausgren-
zung von Meinungen tun könne. Schließ-
lich entstand die Idee, einen Preis zu stif-
ten, den Menschen bekommen sollten,
die sich für eine vorbildliche Streitkultur
einsetzten. Der Preis bekam den Namen
„Senss-Award für Streitkultur“. „Senns“
steht für „Seid euch nicht so sicher“.
Jeder Mensch sollte sich klarmachen,
dass er sich nie sicher sein könne, was
richtig und was falsch sei. „Es darf nicht
sein, dass Menschen sich nicht mehr
trauen, ihre Meinung zu äußern, weil sie
befürchten, ausgegrenzt, verletzt oder als
Mensch abgelehnt zu werden“, so Wie-
semann.
Niemand dürfe sich seiner eigenen Mei-
nung so sicher sein, dass er Grenzen
überschreite und Andersdenkenden Ge-
walt antue. „Erfolgreiche Gesellschaften
leben vom freien Denken. Wenn der freie
Meinungsaustausch beschnitten wird,
wirkt das wie ein Hemmschuh, unter
dem letztendlich die gesamte Gesell-
schaft, in der wir leben, leidet. Das ken-
nen wir von Diktaturen“, ist sich der Un-
perfekthausbetreiber sicher. Ob er nicht
befürchte, falschen oder gar gefährlichen
Meinungen Raum zu geben, wurde er oft
gefragt. Wiesemann hält dagegen: „Dem
Disput müssen wir Raum geben, nicht
der Meinung.“ Getreu dem Wort des fran-
zösischen Aufklärers Voltaire: „Mein Herr,
ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich
würde mein Leben dafür einsetzen, dass
Sie sie äußern dürfen.“ Voltaire ist einer
der meistgelesenen und einflussreichsten
Autoren der französischen und europä-
ischen Aufklärung. In Frankreich nennt
man das 18. Jahrhundert auch „das Jahr-
hundert Voltaires“.
Heute beeindrucken eher Persönlichkei-
ten wie die Journalistin Dunja Hayali,
die Wiesemann sehr schätzt. Er bewun-
dert, wie sie auf Menschen zugeht und
ihnen zuhört, auch wenn diese extreme
Meinungen vertreten. „Man sollte immer
bereit sein, mit allen Menschen zu reden
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