training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
06_2018
und sich ihre völlig verschiedenen An-
sichten anzuhören und dann in der Sache
hart zu diskutieren, ohne den Menschen
dahinter abzuwerten“, so Wiesemann.
„Ich möchte verstehen, was den ein-
zelnen Menschen zu seiner Auffassung
bringt, warum er sie vertritt. Nur so wird
die eigene Haltung differenzierter und
kann zur besten Lösung führen. Dazu
muss ich aber alle Meinungen erstmal zu-
lassen, auch wenn ich sie persönlich ab-
lehne oder gar für gefährlich halte.“ Dass
dieses Credo schwer umzusetzen und zu
leben ist, weiß wohl jeder aus eigener Er-
fahrung. Kein Mensch ist perfekt. Trotz-
dem: Um die Idee einer besseren Streit-
kultur in Deutschland zu verbreiten, gibt
es jetzt den von Wiesemann so getauften
„Senss-Award“. Das Wort „Senss“ steht
dabei für „Seid euch nicht so sicher“,
eine Ermahnung an alle, die sich im Be-
sitz der absoluten Wahrheit glauben und
sich berechtigt fühlen, Andersdenkende
schmerzhaft zu bestrafen oder gar zu ver-
nichten.
Die erste Verleihung dieses Awards (er
besteht aus einem ersten, zweiten und
dritten Platz) fand im April 2018 in der
Essener Kreuzeskirche statt. Zuvor hatte
eine 19-köpfige Jury knapp 80 Bewer-
bungen sorgfältig ausgewertet. 250 ge-
ladene Gäste erlebten, dass die 32 Jahre
alte Selly Wane, Initiatorin zahlreicher
Integrationsprojekte, mit dem Hauptpreis
des „Senss-Awards 2018“ ausgezeichnet
wurde. Mit Wane wurde eine Frau geehrt,
die sich weigerte, dem Druck bestimmter
politischer Gruppen nachzugeben – ge-
meint sind Gruppen, die es für verboten
halten, mit dem politischen Gegner auch
nur zu reden.
Die Preisträgerin ist unter anderem ver-
antwortlich für die Aktion „Cooking
Hope“. In ihrem Café kochen Flüchtlinge
Rezepte aus ihrer Heimat. Wane ent-
schloss sich, vor der Landtagswahl in
Nordrhein-Westfalen zu einer riskanten
Diskussionsveranstaltung. Sie lud Vertre-
ter aller Parteien (auch der AfD) zu einer
Podiumsdiskussion in ihr Café ein. Von
Boykottaufrufen, Gewaltandrohungen
und Diffamierungen ließ sich die Preis-
trägerin nicht einschüchtern. Sie ließ sich
nicht davon abbringen, alle Parteien ein-
zuladen, die im Landtag vertreten sind,
weil sie der Meinung war, dass ein inhalt-
licher Austausch mit allen Kandidaten
möglich sein müsse. Wane rief den Teil-
nehmern der Preisverleihung zu: „Man
muss sich immer nach seiner Überzeu-
gung verhalten.“
Dass die AfD-Vertreter am Ende der Dis-
kussion ihr Café nur unter Polizeischutz
verlassen konnten, macht Wane traurig.
Wer seine Gegner zu Objekten mache,
ebne den Weg für Gewalt und Terror. In
ihrer Heimat Afrika habe die Entwürdi-
gung des Gegners sehr oft zu Extremis-
mus und Bürgerkrieg geführt. Davor
wolle sie warnen.
Auch Hannes Ley, Initiator der Aktion
„#Ich bin hier“ kennt das Gefühl, für
seine Arbeit bedroht und beschimpft zu
werden. Mit mittlerweile über dreißigtau-
send Aktiven stellt sich „#Ich bin hier“
gegen die Welle aus Hass und Bigotterie
auf Facebook – nicht aggressiv, sondern
freundlich und auf der Basis gesicherter
Fakten. An „digitalen Lagerfeuern“ ver-
sammeln sich die Aktivisten der Initiative
und schwärmen ins Web aus, um Hass-
kommentaren und Beschimpfungen mit
Argumenten und Tatsachen zu begegnen.
Eine Arbeit, die emotional belastend und
bedrückend sein kann; in ihrem Netz-
werk stützen sich die Akteure von „#Ich
bin hier“ gegenseitig und machen sich
Mut. Der zweite Platz beim Senss-Award
ist eine von inzwischen zahlreichen Aner-
kennungen, die „#Ich bin hier“ für seine
Arbeit bekommen hat.
Ganz anders liegt die Sache bei „Köln
spricht“, dem Gewinner des dritten Plat-
zes, der mit einer glücklichen und fröh-
lichen Gruppe von stolzen Machern aus
Köln angereist war. „Ich werd verrückt,
wir haben noch nie was gewonnen!“, war
die spontane Reaktion von Fabian Guzzo,
dem Initiator der Gruppe, als er am Tele-
fon von der Auszeichnung erfuhr. Kaum
zu begreifen, denn die Ziele von „Köln
spricht“ sind ebenso beeindruckend und
sympathisch wie das, was die bunte
Truppe aus diskutierfreudigen jungen
Menschen schon erreicht hat: Sie wollen
zeigen, dass man Politik beeinflussen
und tatsächlich selber machen kann, dass
Politik nicht nur eine Sache von „denen
da oben“ ist und dass ein fairer Streit tat-
sächlich auch eine Menge Spaß machen
kann.
„Köln spricht“ versteht sich als „demo-
kratische Speakers‘ Corner“, die sich an
allen möglichen Orten trifft, in Parks,
an Badeseen, in Kneipen und Theatern,
nicht nur, um zu chillen und Party zu ma-
chen (das auch), sondern um zu reden.
Der Traum der Macher von „Köln spricht“
ist es, ein „Europa spricht“ ins Leben zu
rufen. Ihr Motto hatten sich die jubeln-
den Preisträger auf ihre T-Shirts drucken
lassen: „Miteinander reden, statt überei-
nander.“
Rund um die Auszeichnungen erlebten
die Gäste in der Kreuzeskirche ein Pro-
gramm, das mit Theater, Musik, Dis-
kussionen und Vorträgen um die Frage
kreiste: „Können wir noch miteinander
reden?“. Lehrer aus vollkommen unter-
schiedlichen Schulen diskutierten mit der
Moderatorin Gisela Steinhauer über die
Erfahrungen mit ihren jungen Schülern.
Ali Can, Autor des Buchs „Hotline für be-
sorgte Bürger“ erzählte, wie ihn die Bilder
des bedrohten Busses mit Flüchtlingen in
Clausnitz dazu brachten, aktiv zu werden
und auf Pegida-Demonstranten zuzuge-
hen, anstatt sie anzuschreien (Schoko-
ladenhasen erwiesen sich in einer ange-
spannten Lage einmal als sinnvolles Mit-
tel zur Deeskalation).
Die Liedermacherin Anke Johannsen
führte zum ersten Mal ihr Lied zum
Thema auf, das aus einem Gespräch mit
Reinhard Wiesemann in einem Regio-
nalexpress entstand. Den ganzen Abend
über hing auf der riesigen Leinwand in
der Kreuzeskirche ein Zitat von Mahatma
Gandhi über den Gästen: „Der Feind ist
die Angst. Wir glauben, es ist der Hass,
aber es ist wirklich die Angst.“ Kluge
Worte an einem Abend, den keiner der
Gäste so schnell vergessen wird.
Katrin Nauber-Happel, Martin Pichler
R
„Früher mussten die Menschen Autos und
Computer erfinden, heute müssen wir den gesell-
schaftlichen Dialog neu erfinden.“
Reinhard Wiesemann