Wirtschaft- und Weiterbildung 7-8/2018 - page 17

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wirtschaft + weiterbildung
07/08_2018
menbasierte Diagnosen voraussichtlich bald den menschlichen
Diagnosen zumindest ebenbürtig, wahrscheinlich sogar über-
legen sein.
Derzeit setzen einige Unternehmen bereits auf eine
Sprachanalyse, die verspricht, anhand einer Sprachprobe
herausfinden zu können, ob ein Bewerber für einen Job
geeignet ist. Was halten Sie davon?
Schuler:
Ein Analyseansatz aus einer einzigen Informations-
quelle ist fast immer unzureichend. Die Angebote geheimnis-
voller Ausdrucksdiagnosen schießen zurzeit wie die Pilze aus
dem Boden. Da gibt es Verfahren, die aus der Wortlänge in
den E-Mails die Intelligenz ermitteln wollen, aus dem Gesicht
auf die sexuelle Orientierung schließen, aus den auf Instagram
geposteten Fotos die Depression des Absenders diagnostizieren
oder aus den Frequenzen unserer Stimme gleich ein ganzes
Persönlichkeitsgutachten fertigen. Jeder dieser Ansätze mag
vielleicht ein Quäntchen brauchbarer Information liefern. Aber
keiner liefert eine ausreichende Diagnose. Soweit es sich um
kommerzielle Anbieter handelt, sind die mitgelieferten Vali-
ditätsbehauptungen meist unfundiert und unglaubhaft. Ich
glaube allerdings durchaus, dass sich gute multimodale und
fundierte maschinelle Diagnosen bald als überlegen erweisen
werden. Das theoretische Potenzial ist da, aber die Praxis der-
zeit noch unzulänglich.
Algorithmen analysieren stets nur Korrelationen, aber keine
Kausalitäten. Spielt die Entwicklung von Theorien – als
Grundlage von Kausalitäten – künftig keine Rolle mehr?
Schuler:
Das ist ein weiterer heikler Punkt. Das Funktionsprin-
zip algorithmischer Diagnosen ist bislang das der Blackbox.
Ein Beispiel: Die Vorstände der Dax-Unternehmen sind über-
wiegend männlich und im Schnitt 1,90 Meter groß. Ein Pro-
gramm, das blind nach Erfolgszusammenhängen sucht, könnte
diese Parameter für eine Prognose und Entscheidungsempfeh-
lung aufnehmen. Pragmatisch gesinnten Anwendern mag das
reichen. Für unseren sinnsuchenden Verstand ist es allerdings
recht unbefriedigend, wenn das geistlose Prinzip der Muster­
erkennung die Oberhand behält.
Sie plädieren dafür, Bewerber fair und redlich zu behandeln.
Wird das nicht automatisch obsolet, wenn Algorithmen irgend-
welche Daten, zum Beispiel Facebook-Likes, durchforsten und
daraus nicht mehr nachvollziehbare Schlüsse ziehen?
Schuler:
Einerseits bieten gute Algorithmen die Möglichkeit,
unfaire und voreingenommene Entscheidungen, wie sie Men-
schen nun mal oft treffen, zu vermeiden. Andererseits ist die
Gefahr groß, dass uns bei maschinellen Automatismen das
Verständnis für die Basis der Entscheidungen, also die ein-
fließenden Variablen, ihre Gewichtung und Kombination, ab-
handenkommt und damit auch die Transparenz für die Be-
troffenen. Das ist das Gegenteil von sozialer Validität, wenn
wir nicht wissen, wer wo welche Diagnosen für wen über uns
einholt. Es ist zu befürchten, dass hier auch unsere berufsethi-
schen Richtlinien nicht genügen. Denn die flinken Finger der
Datenexperten und die merkantile Energie ihrer geschäftstüch-
tigen Auftraggeber könnten dafür sorgen, dass Gewissen und
Verantwortung mit den technischen Möglichkeiten nicht mit-
halten können. Das Wissen vermehrt sich ganz offensichtlich
schneller als die Weisheit, es sinnvoll zu gebrauchen. Wie man
der künstlichen Intelligenz verlässlich und dauerhaft beibringt,
nicht nur die menschliche Diagnostik zu überbieten, sondern
dabei auch menschliche Tugenden wie Vertrauen, Güte und
Rücksichtnahme walten zu lassen, ist noch offen.
Was sind die größten Herausforderungen für die Eignungs-
diagnostik und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Schuler:
Der technische Wandel überfordert uns in vielen Be-
reichen. Es wird schwierig sein, gleichzeitig technische Ent-
wicklungen in der Eignungsdiagnostik sinnvoll zu nutzen,
aber zu verhindern, dass sie unserer Kontrolle entgleiten. Und
diese Aufgabe können uns auch die Maschinen nicht abneh-
men. Die Welt der Arbeit hat sich für viele Menschen schon
heute grundsätzlich geändert und sie wird sich für noch mehr
Menschen noch grundsätzlicher ändern. Sie müssen immer
häufiger ihren Beruf oder Tätigkeitsbereich wechseln. Das ist
vor allem für Ältere schwierig und führt häufig zu einer Ab-
senkung des Tätigkeitsniveaus und damit wiederum zu einer
größeren Gefährdung des Jobs. Hier kann gute Eignungsdia-
gnostik eine wichtige Rolle spielen, um auszuloten, welche
Talente in einem Menschen stecken. In vielen Bereichen, sei es
beim Nachwuchsproblem im Handwerk oder der Integration
von Menschen mit Migrationshintergrund, sind die Möglich-
keiten der Eignungsdiagnostik bei Weitem noch nicht ausge-
schöpft. Was meine Wünsche betrifft, so teile ich die positive
Einschätzung unserer amerikanischen Kollegen Robert Hogan
und Brent Roberts: Psychologische Diagnostik ist der Hauptbei-
trag der Psychologie in unserem Alltagsleben. Denn Eignungs-
diagnostik ist nicht nur da, um Unternehmen zu einer besseren
Personalauswahl und damit zu mehr Rendite zu verhelfen,
sondern auch, um den Menschen mehr Glück, Erfüllung und
Lebenserfolg zu bringen.
Interview: Bärbel Schwertfeger
Heinz Schuler.
Der Wissenschaftler hatte von 1982 bis
2010
den Lehrstuhl für Psychologie an der Universität
Hohenheim (Stuttgart) inne.
Er
prägte das Fachgebiet Arbeits- und Organisationspsy-
chologie entscheidend mit. So entwickelte er eine große
Zahl psychologischer Tests und anderer eignungsdiagnos-
tischer Verfahren, die auch international genutzt werden,
darunter das multimodale Interview, das Leistungsmo-
tivationsinventar und den Onlinetest „Was-studiere-ich.
de“, der jährlich von einer Million junger Menschen zur
Berufs- und Studienberatung genutzt wird.
Pionierarbeit
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