wirtschaft und weiterbildung 1/2017 - page 49

R
wirtschaft + weiterbildung
01_2017
49
informellem Lernen, dem der Makel des
Zufälligen und damit Unkontrollierbaren
anhaftete. Stattdessen stieg die Bedeutung
der Qualifizierung in betrieblichen, über-
und außerbetrieblichen Bildungsstätten,
weil es dort unter gleichen Randbedin-
gungen für alle das Gleiche zu lernen
gilt. Das formale Lernen besticht durch
seine strukturelle Nähe zum Grundver-
ständnis von Qualitätsprozessen. Aktuell
wird dem informellen Lernen dennoch
wieder eine größere Aufmerksamkeit zu-
teil. Verschiedene Untersuchungen und
Befragungen kommen zu dem Ergebnis,
dass ein Großteil auch des beruflich wirk-
samen Lernens informell ist. So schätzt
die Faure-Kommission der Unesco, dass
informelles Lernen etwa 70 Prozent aller
Lernprozesse umfasst. Professor David Li-
vingstone kommt bei einer Erhebung des
kanadischen Forschungsnetzwerks New
Approach to Lifelong Learning zu dem
Ergebnis, dass 75 Prozent allen Wissens
informell erworben wird. Treffenderweise
vergleicht er die Erwachsenenbildung mit
einem Eisberg, bei dem die verborgenen
informellen Aspekte von gewaltigem Aus-
maß sind. Hier bietet sich ein Seitenblick
auf das bewährte Eisbergmodell von Paul
Watzlawick an, der feststellte, dass es bei
der Kommunikation nur zum kleineren
Teil auf das ankommt, was wir sagen.
Zum viel größeren kommt es auf den Teil
an, der unter der Oberfläche verborgen
ist, nämlich darauf, wie wir etwas sagen
und wie unsere Beziehung zum Empfän-
ger ist.
Bedeutung: informelles
Lernen
Ähnlich scheint die Wirksamkeit des Ler-
nens stärker von den Möglichkeiten des
mächtigen, aber verborgenen informel-
len Lernens abzuhängen und weniger
von den Qualifikationen durch formale
Prozesse. Eine Erkenntnis, die unsere All-
tagswahrnehmung oft zu stützen scheint.
Christiane Schiersmann stellt in einer
Untersuchung fest, dass 87 Prozent der
Befragten angaben, in informellen Lern-
kontexten am meisten gelernt zu haben.
Die Bedeutung des informellen Lernens
wird auch in vielen anderen Publikati-
onen mit Zahlen dieser Art unterlegt,
wobei kritisch zu hinterfragen ist, wie
ein Lernen erfasst werden kann, das per
Definition zumindest in Teilen auch un-
bewusst sein kann und somit keiner Re-
flexion zugänglich ist. Aber auch wenn
es schwierig ist anzugeben, wie viel man
informell gelernt hat, weil sich die infor-
mellen Prozesse oft unserer bewussten
Wahrnehmung entziehen, ist die An-
nahme, dass dem informellen Lernen
mehr Wissen zu verdanken ist, plausibel
und durch reichlich Indizien zu belegen.
Während also das informelle Lernen zu
Recht immer wichtiger wird, stagniert
das Lernen in Lehrgängen und Semina-
ren. Gründe dafür liegen auf der einen
Seite in einem immer schnelleren Wandel
von Arbeitsanforderungen in wissensba-
sierten Tätigkeiten, auf der anderen Seite
an einer Delegation von Qualifizierungs-
verantwortung an die Beschäftigten. Die
subjektive Zuschreibung einer hohen
Bedeutung informeller Lernprozesse für
die berufliche Entwicklung erfordert, die
Frage nach der Ausgestaltung informel-
ler Lernkontexte näher zu erforschen. Zu
prüfen ist, wie diese sinnvoll mit forma-
len Lernszenarien verknüpft werden kön-
nen.
Zwischenfazit: Lernformen
Eine zusammenfassende Gegenüberstel-
lung der Merkmale des formalen und
des informellen Lernens im beruflichen
Kontext zeigt Abbildung 1. Dabei sei da-
rauf hingewiesen, dass der Lernort das
Merkmale II.
Viele Definitionen zu
formalem Lernen
wei-
sen im Gegensatz zu den Definitionen des informellen
Lernens große Übereinstimmungen auf. Wesentliche Merk-
male sind:
· Formales Lernen findet in Institutionen beziehungsweise
eigens dafür geschaffenen Umfeldern statt.
· Formales Lernen führt zu Zertifizierung, also formaler
Anerkennung, unabhängig von der Anerkennung anderer
oder der eigenen Befriedigung durch das Erreichte.
· Formales Lernen ist strukturiert hinsichtlich Lernzielen
und Lerninhalten.
In Ergänzung und als Abgrenzung zu formalem Lernen wird
häufig der Begriff des
nicht-formalen (auch non-formalen)
Lernens
verwendet. Wichtige − in unterschiedlichen Defini-
tionen übereinstimmende − Merkmale hierfür sind:
· Nicht-formales Lernen findet nicht in Bildungs- oder
Berufsbildungseinrichtungen statt.
· Nicht-formales Lernen ist strukturiert hinsichtlich Lernzie-
len und Lerninhalten.
· Nicht-formales Lernen vollzieht sich in gezielt und organi-
siert durchgeführten Qualifizierungsmaßnahmen.
Definition „Formales Lernen“
Buchtipp.
Dieser Artikel ist ein Auszug
aus dem Buch „Personalentwicklung
2017. Themen, Trends, Best Practices“,
das gerade erschienen ist (Herausgeber:
Karlheinz Schwuchow, Joachim Gutmann,
Haufe, Freiburg 2016, 99 Euro).
1...,39,40,41,42,43,44,45,46,47,48 50,51,52,53,54,55,56,57,58,59,...68
Powered by FlippingBook