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wirtschaft + weiterbildung
10_2016
titelthema
dass sie die im Management gehandelten
klassischen Phasenmodelle aufgreift und
sie mit den in Teilen der Change-Manage-
ment-Szene populären esoterischen Be-
griffen und Konzepten auflädt.
Nicht zufällig erinnern die Phasen der
Theorie U an die sieben Phasen eines
Yogis. Ein Yogi müsse zuerst realisie-
ren, dass alles „wahre Wissen“ aus ihm
selbst herauskomme, er dann die Ursa-
chen für sein Leiden begreife und sich in
der Phase des Samadhi ganz von seinem
„Selbst“ absorbieren lasse. Darauf auf-
bauend realisiere er, dass er keine religiö-
sen Handlungen mehr ausführen müsse.
Er bekomme in der nächsten Phase volle
Kontrolle über seine geistigen Prozesse,
befreie sich anschließend von allen ex-
ternen Prozessen und erreiche so in der
letzten Phase den Zustand der absoluten
Freiheit. Im Gegensatz zu den eher tech-
nokratisch daherkommenden „PULM-
Zyklen“ oder den „Plan-Do-Check-Act-
Zyklen“ ist die Theorie U voller Verände-
rungspoesie.
Was angesichts der poetischen Sprache
Scharmers leicht übersehen wird, ist,
dass es sich bei der Theorie U letztlich
um eine esoterische Variante klassischen
zweckrationalen Denkens handelt. Auch
wenn Scharmer betont, dass das „U“ als
ein „ganzheitliches Feld“, nicht als ein
„linearer Prozess“ funktioniere, dann
erkennt man doch, wie ähnlich es dem
PULM-Phasen-Modell, den „Plan-Do-
Check-Act-Zyklen“ oder dem „Unfreeze-
Moving-Freeze“-Modell von Kurt Lewin
ist. Letztlich geht es auch in der Theorie
U darum, die Ist-Situation zu analysieren,
Probleme zu identifizieren, gemeinsam
Ziele zu formulieren, neue Möglichkeiten
zu entwickeln, diese auszuprobieren und
dann umzusetzen.
Sicherlich – es gibt inhaltlich eigene Ak-
zentuierungen. Die Vorstellungen für die
Zukunft der Organisation sollten aus der
Organisation selbst heraus „geboren“
werden. Es gehe, so Scharmer, nicht so
sehr darum, die anderswo entworfenen
Konzepte zu übernehmen, sondern die
blinden Flecken der eigenen Organisation
zu erkennen und aus diesen Erkenntnis-
sen heraus die Zukunft in die „Welt zu
bringen“. Auch die Idee des Prototypings
ist insofern eine Variation gegenüber
anderen zweckrationalen Management-
konzepten, als nicht mehr davon ausge-
gangen wird, dass man schon im ersten
Wurf eine perfekte Lösung finden könne.
Vielmehr heißt es, dass man erst ein-
mal mit unfertigen Lösungen hantieren
müsse, bevor sich eine neue Vorgehens-
weise herausmendele. Aber letztlich do-
miniert in der Theorie U die altbekannte
Vorgehensweise, alles von einem gemein-
samen Zweck aus zu denken. Am Ende
steht immer so etwas wie der gemein-
same Zweck, nur dass dieser jetzt als
Formung einer „gemeinsamen Intention“
bezeichnet wird, für die man sich mit
anderen verbinden möchte, als Zukunft,
die durch einen selbst „werden will“, als
„Landungspunkte der Zukunft“ oder als
„öffnende Innovationsräume“.
Statt von Zielen ist die Rede davon, dass
es neben dem „Selbst“, das daraus be-
steht, was eine Person, eine Gruppe oder
eine Organisation aufgrund eines vergan-
genen „Lebensweges“ geworden ist, noch
ein zweites „Selbst“ gebe, nämlich die
Person oder die Gemeinschaft, die man in
der „Zukunft werden“ möchte. Statt von
Zwecken zu sprechen, die vom Manage-
ment erreicht werden sollen, ist die Rede
davon, dass die „höchste Zukunftsmög-
lichkeit wahrzunehmen“ sei und aus die-
ser heraus zu handeln sei. DAs sei dann
die „Essenz von Führung“. Was soll „von
der Zukunft her“ führen anderes sein als
die Orientierung des Handelns an Zwe-
cken oder Zielen, die gemeinsam imagi-
niert wurden?
Aber – und das ist die zentrale Frage –
funktionieren Organisationen und weiter-
gehend das Leben von Menschen wirk-
lich so, wie man es sich in der Theorie U
zurechtlegt? Es ist in der Organisations-
forschung inzwischen gut herausgearbei-
tet worden, dass man sich einer Illusion
hingibt, wenn man in Organisationen
davon ausgeht, dass in der Regel rational
handelnde Akteure Lösungen für vorher
definierte Probleme suchen. Viel zu häu-
fig seien die Zielsetzungen unklar und wi-
dersprüchlich, oftmals sei nicht bekannt,
welches Problemlösungsverfahren am
besten geeignet sei, und die Entschei-
dungsgremien setzten sich häufig zufällig
zusammen.
Die revolutionäre Idee von Michael D.
Cohen, James A. March und Johan P.
Olsen (1972) besagt, dass Akteure Lö-
sungen und Probleme nur lose, teilweise
unverbindlich miteinander koppeln. Pro-
blemlösungen sind aus dieser Perspek-
tive nichts weiter als ein recht zufälliges
„Bündnis“ von Problemen, Lösungen und
Akteuren.
Der Entscheidungsprozess ist wie ein
Papierkorb, der mit Problemen, Akteu-
ren und Lösungen gefüllt ist, die sich
ziemlich beliebig aneinanderbinden. In
diesem Prozess kann es zwar passieren,
dass für ein bestimmtes Problem eine Lö-
sung gesucht wird. Genauso häufig oder
sogar noch häufiger tritt aber der Fall auf,
dass für ein gerade aktuell auftretendes
Problem eine Lösung gesucht wird. Dies
ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sich
viele wichtige Probleme in Organisatio-
nen anhäufen. Um die durch die Vielzahl
von Problemen entstehende Komplexität
zu lösen, sucht ein Akteur das passende
Problem für eine sowieso gerade vorhan-
dene Lösung.
Eine andere oftmals vorkommende Situa-
tion ist, dass Probleme, die einige Zeit zur
Lösung anstanden, denen sich aber keine
Lösung zuordnen ließ, einfach von den
Entscheidungsträgern zurückgestellt wer-
den, und zwar so lange, bis sich vielleicht
eine bessere Entscheidungsgelegenheit
ergibt. Natürlich wird deutlich, dass auf
diese Art und Weise Probleme nicht gut
gelöst werden, es besteht jedoch so die
Möglichkeit, dass zwischen Alternativen
ausgewählt und Probleme gelöst werden
können, selbst dann, wenn die Organi-
sation von Dingen wie Ambiguität, sich
ständig verändernden Umwelten, Ziel-
mehrdeutigkeit oder Zielkonflikten ge-
plagt wird. Die esoterische Wortwahl der
Theorie U verdeckt, dass sich dahinter
letztlich nichts anderes als eine sprach-
lich verkomplizierte Steuerungsphantasie
versteckt.
Politische Prozesse sind in der Regel nicht
durch eine Abfolge von „Raum geben
und halten“, „Innehalten“, „Erspüren“,
„Presencing“, „Verdichten und Kristalli-
sieren“, „Prototyping“ und „in die Welt
bringen“ bestimmt, sondern häufig exis-
tieren Prototypen von Lösungen, die für
ganz andere Probleme geschaffen wur-
den, dann aber für ein akut werdendes
Problem herhalten müssen. Entschei-
dungsprozesse in Organisationen folgen
in der Regel überhaupt nicht den Pha-
R