Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 29

wirtschaft + weiterbildung
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sen der Theorie U, sondern die Phasen
„Raum geben“, „in die Welt bringen“ und
„Innehalten“ laufen im Wesentlichen pa-
rallel ab und die entstehenden Prozesse
ergeben sich mehr oder minder zufällig.
Ähnlich ist es auch bei der Wahl von Le-
benspartnern.
Allen neuen Möglichkeiten von Inter-
netplattformen zum Trotz wird ein Le-
benspartner nicht nach einer strikten
Abfolge der Phasen „Raum geben und
halten“, „Innehalten“, „Erspüren“, „Pre-
sencing“, „Verdichten und Kristallisie-
ren“, „Prototyping“ und „in die Welt brin-
gen“ ausgewählt. Vielmehr läuft einem in
den meisten Fällen der Lebenspartner als
eine mehr oder minder gewollte Lösung
über den Weg, die sich dann zufällig an
einen selbst mit all ihren Problemen an-
koppelt. Das Leben in Organisationen,
aber auch außerhalb von Organisationen
ist viel wilder, als es die Theorie U uns
glauben machen möchte.
5. Fazit:
Zur Nützlichkeit des Konzepts in
der Beratung
Managementmoden nutzen sich mit der
Zeit mehr oder weniger ab. Ob man nun
die Ansätze des Lean Managements, des
Business-Process-Reengineering oder der
Lernenden Organisation nimmt – anfangs
sind sie durch Lobpreisungen, Erfolgs-
geschichten und Rezepte so abgesichert,
dass jede grundlegendere Kritik als Ketze-
rei betrachtet wird.
Wer es wagt, in der Anfangsphase auf die
blinden Flecken des neuen, rational er-
scheinenden Unternehmensmodells hin-
zuweisen, wird in der Regel ignoriert oder
diskriminiert. Durch den Einsatz in der
Praxis verbraucht sich das Modell jedoch
selbst. Die Originalität geht verloren. Die
anfangs überschwänglichen Hoffnungen
werden enttäuscht. Schwachstellen tre-
ten hervor. Auch wenn einige Berater und
Manager mit Einwürfen wie „So machen
Sie Lean Management richtig“, „Die Feh-
ler beim Reengineering und wie Sie sie
vermeiden können“ oder „Lernende Or-
ganisation – jetzt aber richtig“ versuchen,
die Modewelle mit Gewalt zu verlängern
– das Modell verliert früher oder später
an Glanz.
Bei ihrem Erscheinen wirken diese auf
Hochglanz gedruckten, in teuren Ma-
nagementbüchern verschachtelten und
in animierte Powerpoint-Präsentationen
gegossenen Konzepte erstmal viel attrak-
tiver als der von den Mitarbeitern wahr-
genommene Status quo. Schließlich steht,
so Niklas Luhmann, der „Härtetest“ der
Vorhaben ja auch noch aus. Je konkreter
eines dieser neuen Konzepte jedoch in die
Praxis umgesetzt wird, desto klarer wird,
dass es ähnliche Widersprüchlichkeiten
birgt wie alle anderen vorher bekannten
Organisationskonzepte auch. Je intensi-
ver Leitvorstellungen von Lean Manage-
ment und Business Process Reengineering
umgesetzt wurden, desto stärker wurden
deren blinde Flecken deutlich. Je häufiger
sich der Kaiser in der Öffentlichkeit zeigt,
so schon die Einsicht der Jugendliteratur,
desto deutlicher wird, dass er nackt ist.
Die Theorie U – das ist jetzt lediglich die
nächste Drehung bei der Erfindung des
vermeintlich Neuen. Es wird mit viel Dra-
matik darauf hingewiesen, dass die alten
Leitbilder und Konzepte den inzwischen
veränderten Umweltbedingungen nicht
mehr gerecht werden und die alten Orga-
nisations- oder gar Gesellschaftsmodelle
durch neuere, überzeugender wirkende
ersetzt werden müssten.
Die grundlegende Bauweise der Theorie
U ist bis in die Details identisch mit den
Konzepten anderer, sich selbst feiernder
oder von anderen als Management Gurus
gefeierter Autoren wie Tom Peters, Peter
Senge oder Jeffrey Sachs. Die Besonder-
heit ist, dass sich Scharmer viel stärker
als die anderen einer esoterischen Sprach-
weise bedient. Die Rede ist von „Spiritua-
lität“, „Personal Mastery“, „Flow“, „Wer-
tehaltung“ und „Vision Quest“. Das kann
unter Umständen erklären, weshalb die-
ser Ansatz besonders bei einigen Teilen
der Organisationsentwicklungsszene gut
ankommt.
Der Nutzen der Theorie U besteht darin,
dass sie gerade mit ihrer auf Wandel aus-
gerichteten Rhetorik Mut zur Verände-
rung macht. Organisationen müssen die
Unsicherheit, die jeder Entscheidung vor-
angeht, einfach sehr weitgehend ignorie-
ren. Sie müssen etwas tun und sich dann
einreden, dass das Getane genau richtig
war und die eingeleitete Maßnahme kon-
sequent weiterzuverfolgen ist. Die Kunst
des Organisierens besteht immer mehr
darin, unsicheres Wissen wie sicheres
Wissen zu behandeln und so zu über-
zeugten und überzeugenden Handlungen
zu kommen. Die Fähigkeit, die für Mana-
ger zunehmend wichtiger wird, besteht
darin, auch die Dinge, die eigentlich be-
zweifelt werden müssten, als gesichert zu
betrachten. Und genau an diesem Punkt
leistet die Theorie U eine wichtige Hilfe-
stellung.
Prof. Dr. Stefan Kühl
Zur Person.
Stefan Kühl ist Professor für Organisations­
soziologie an der Universität Bielefeld. Freiberuflich arbei-
tet er als Senior Consultant für die Organisationsberatung
Metaplan in Quickborn, Zürich, Paris und Princeton.
Kühl wurde bekannt durch seine Trilogie „Wenn die Affen
den Zoo regieren – die Tücken der flachen Hierarchien“,
„Das Regenmacher-Phänomen – Widersprüche im Konzept
der lernenden Organisation“ und „Sisyphos im Manage-
ment – die vergebliche Suche nach der optimalen Organi-
sationsstruktur“. Alle drei Bücher sind in erweiterten Neu-
auflagen im Campus-Verlag erschienen.
Seit Mitte 2016 bringt der Verlag Springer VS folgende
„Praktikereinführungen“ von Stefan Kühl heraus: „Organi-
sationen gestalten“, „Märkte explorieren“, „Projekte füh-
ren“, „Leitbilder erarbeiten“ und „Strategien entwickeln“.
Wer ist Stefan Kühl?
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