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wirtschaft + weiterbildung
10_2016
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Veränderungen, die in Organisationen
stattfinden müssen, aber der Anspruch
lautet, dass sich mit den Veränderungen
in den Organisationen die Gesellschaft
als Ganzes zum Besseren wandelt. Die
Rede ist von der „Mikro-, Meso-, Makro-
und Mundoebene sozialer Systeme“, die
durch die Theorie U erreicht und verän-
dert werden könnten.
Aber genau an diesem Punkt greift die
Theorie U zu kurz. Die zentrale Erkennt-
nis der Systemtheorie besagt, dass soziale
Systeme auf den verschiedenen Ebenen
ganz unterschiedlich funktionieren. Eine
Face-to-Face-Interaktion, die auf der Kom-
munikation unter Anwesenden basiert,
funktioniert ganz anders als ein Markt, in
dem Güter und Dienstleistungen zeitver-
setzt und über große räumliche Distanz
gehandelt werden. Eine Familie mit ihrer
Orientierung an Intimkommunikation hat
ganz andere Logiken als eine Organisa-
tion mit ihrer Orientierung an Entschei-
dungskommunikation oder eine Protest-
bewegung mit ihrer Orientierung an Wer-
tekommunikation. Und Veränderungen in
der Kommunikation eines Teams laufen
nach grundlegend anderen Prinzipien ab
als Veränderungen in der Gesellschaft.
Dieser Prozess, der in der soziologischen
Systemtheorie als „soziale Differenzie-
rung“ bezeichnet wird, wird in der Theo-
rie U negiert. Es wird in den Fallbeschrei-
bungen der Personen, die mit der Theorie
U arbeiten, deutlich, dass die Theorie U
vorrangig zur Klärung der Position ein-
zelner Personen in Teams oder Gruppen
dient. Wenn es Scharmer darum geht, zu
beschreiben, wie mithilfe der Theorie U
organisationelle oder gar gesellschaftli-
che Veränderungen erreicht werden sol-
len, bleiben diese Prozesse überraschend
blass. Es läuft dann auf so hilflose Vorstel-
lungen hinaus, dass die Gesellschaft dar-
über verändert werden könne, dass welt-
weit Menschen seine Online-Kurse zur
Theorie U hören und sich dann in realen
oder virtuellen Zirkeln treffen, um die Ge-
sellschaft zu verändern. Die Illusion solch
weitgehender Veränderungsansprüche
mag durch kurzfristige Gemeinschaftser-
lebnisse bei mehr oder minder virtuellen
Zusammenkünften produziert werden,
– mit einem grundlegenden Verständnis
über die Differenzierung moderner Ge-
sellschaften hat dies nichts zu tun.
2. blinder Fleck:
die Aufhebung der Differenzen zwi-
schen Wissenschaft, Wirtschaft,
Politik und Religion
Die Theorie U hat den Anspruch, neue
wissenschaftliche Erkenntnisse so mit
spirituellen Elementen zu verknüpfen,
dass eine neue politische, wirtschaftli-
che und religiöse Praxis entsteht. Bei der
„Erschließung des vierten Feldes sozi-
alen Werdens“ würden Praktiker in der
Wirtschaft, Forscher in der Wissenschaft,
Sinnsuchende in der Religion zusammen-
kommen und ein gemeinsames Feld kre-
ieren.
Es geht in der Theorie U dabei, so Schar-
mer, um eine „neue Wissenschaft“, in
der die „unsichtbare Dimension der so-
zialen Prozesse“ erhellt wird, mit der es
„jeder von uns im täglichen Leben“ zu
tun hat. Dafür müsse die Wissenschaft
durch den „Willen zur Weisheit“ geleitet
werden. Die „heutige Wissenschaftstrans-
formation“ – so die übliche Referenz bei
der Verkündigung fast jedes Paradigmen-
wechsels – sei „nicht weniger revolutio-
när als seinerzeit die von Galileo Galilei.
Und auch – so die vorauseilende Immu-
nisierung gegen Kritik – werde der Wi-
derstand der „amtierenden Wissens- und
Würdenträger“ „nicht weniger erbittert
sein“ als der, auf „den Galilei seinerzeit
stieß“. Man müsse sich der Frage stellen,
wie die „Synthese zwischen Wissen-
schaft, sozialer Evolution und dem Wer-
den des Selbst“ aussehen könnte.
Bei dem Nachweis der Wissenschaftlich-
keit wird dann nicht – wie in der Wissen-
schaft sonst üblich – mit seitengenauen
Referenzen auf wissenschaftliche Texte
anderer gearbeitet, sondern es wird im
Vorwort angeführt, dass man bei der Er-
arbeitung der eigenen Theorie durch die
Überlegungen einer Vielzahl großer Den-
ker beeinflusst wurde. Bei Scharmer sind
es neben Friedrich Nietzsche, Edmund
Husserl, Martin Heidegger, Jürgen Haber-
mas und Peter Senge auch gleich noch
„einige der alten Meister“ wie Aristoteles
und Plato. Dazu kommen dann noch als
Spezifikum dieses Ansatzes die Verweise
auf die „Auseinandersetzung mit dem
Werk des Künstlers Joseph Beuys“ sowie
dem Werk von Rudolf Steiner, dessen
„Synthese von Wissenschaft, Bewusst-
sein und sozialer Innovation“ eine maß-
gebliche Inspirationsquelle gewesen sei.
Es ist für Managementmoden üblich, dass
sich die Vertreter der jeweiligen Mode mit
wissenschaftlichen Kompetenzsigna-
len ausstatten. Dabei wird nicht nur auf
eine „zehnjährige Forschungstätigkeit“
für die Theorie U verwiesen, sondern es
wird auch die Anbindung an Universi-
täten wie das Massachusetts Institute of
Technology in Cambridge herausgestellt.
Es ist inzwischen üblich, dass auch re-
nommierte Universitäten nicht nur Wis-
senschaftler beschäftigen, die sich den
üblichen Publikationszwängen unter-
werfen, sondern auch Wissenschaftler,
die die Schnittstelle zur Wirtschafts- und
Politikberatung bedienen. Das ist gerade
für US-amerikanische und asiatische Uni-
versitäten nicht nur wichtig, um den für
viele europäische Universitäten eher un-
üblichen Wechsel von Personen zwischen
Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu
organisieren, sondern auch, um die gut
Foto: Pichler
Prof. Dr. Stefan
Kühl.
Der Soziologe
hält die Theorie U
für eine der vielen
Management-
Moden, die kamen
und gingen. Neu ist
für ihn der esoteri-
sche Überbau.