Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 22

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wirtschaft + weiterbildung
10_2016
„Soziale Beziehungen formen uns viel mehr als vermutet“
„Eng ist die Welt, doch der Geist ist weit“, dieses Friedrich-
Schiller-Zitat stellte Gerald Hüther an den Anfang seiner
Laudatio. Aber heute – nach Jahren der Globalisierung –
würde Schiller wohl eher sagen: „Weit ist die Welt, doch
der Geist vieler Menschen ist eng.“ Wenn es nun darauf
ankomme, den Geist der Menschen zu öffnen, dann emp-
fiehlt Hüther die „Theorie U“. Sie leite einzelne Personen,
größere Organisationen und sogar die ganze Menschheit
an, schwierige Transformationsprozesse zu durchlaufen.
Das wichtigste Prinzip dabei sei das Prinzip der Selbst­
organisation.
„Nicht das Gehirn blockiert Veränderungen“
Darüber hinaus gebe es aber noch eine „treibende Kraft“,
die Systeme wachsen lasse. Diese Kraft nennt Scharmer
„das soziale Feld“. Laut Hüther ist sie so etwas wie ein
„morphogenetisches Feld“ (so bezeichnete der britische
Biologe Rupert Sheldrake ein hypothetisches Feld, das
„formbildend“ sei für Strukturen sowohl in der Biologie,
Physik, Chemie, aber auch in der Gesellschaft).
Menschen, die sich vom „sozialen Feld“ abgekoppelt hät-
ten, erkenne man daran, dass sie von Neid, Angst und
Zynismus beherrscht würden. Wer mit dem Feld verbunden
sei, der habe seine Neugier, seinen Mut und seine Leiden-
Award.
Am 19. September wurde in Bonn der „Leonardo – European Corporate Learning Award
2016“ vergeben. In der Kategorie „Thought Leadership“ wurde Claus Otto Scharmer für die
Entwicklung der „Theorie U“ ausgezeichnet. Laudator war der Neurobiologe Professor Gerald Hüther.
Gala.
Obwohl sie sich noch nie begegnet waren, verstan-
den sich Preisträger Scharmer (Mitte) und Laudator Hüt-
her auf Anhieb prächtig. Als Erste gratulierte Trudi West,
Dozentin beim Leonardo-Kooperationspartner Ashridge.
schaft wiederentdeckt. Wer der „Theorie U“ folge, erreiche
nicht nur eine Öffnung des Geistes, sondern auch des Her-
zens und des Willens.
Hüther machte in seiner Laudatio auf zwei Erkenntnisse
der Neurobiologie aufmerksam, die für die Praxisnähe der
„Theorie U“ sprächen. So habe sich herausgestellt, dass
unser Gehirn kein Motor sei, der im Laufe der Jahre ver-
schleiße, sondern unser Gehirn sei bis in hohe Alter form-
bar. Leistungsfähige, neue Nervenverbindungen könnten
jederzeit entstehen. Es sei möglich, dass Erwachsene ihre
Geisteshaltung ändern könnten – wie es von der „Theorie
U“ gefordert werde. „Es ist nicht das Gehirn, das Verände-
rungen blockiert“, rief Hüther seinen Zuhörern zu.
„Menschen nie wie Objekte behandeln“
Zum Zweiten habe die Neurobiologie herausgefunden, dass
das Gehirn sich nicht unabhängig entwickle, sondern die
Verbindung zu anderen Menschen und was wir von ihnen
lernten uns maßgeblich beeinflusse. „Wir werden viel mehr
von sozialen Beziehungen geformt als gedacht“, so Hüther.
Die „Theorie U“ liege deshalb richtig, wenn sie dazu aufrufe,
dass Menschen sich zu Gemeinschaften zusammenfinden
sollten, um sich gegenseitig stark zu machen und neue
Ideen auszutauschen. Hüther präzisierte: „Wir brauchen
Gemeinschaften, wo sich die einzelnen Mitglieder nicht als
Objekte behandeln. Jeder sollte das Gefühl haben, er sei
ein wichtiger Teil einer Community, weil er so ist, wie er ist.“
Nur so kämen Potenziale zur Entfaltung.
Leonardo-Award für provokative Vordenker
Der „Leonardo European Corporate Learning Award“ wurde
2010 gemeinschaftlich von Alexander R. Petsch von der
HRM Research Institute GmbH, Günther M. Szogs, Prof. Dr.
Uwe Beck und Prof. Dr. Winfried Sommer initiiert und wird
seither vom HRM Research Institute ausgerichtet. Ziel ist
es, provokative, mutige und erfolgreiche Vordenker und
Visionäre der europäischen wie internationalen Bildungs-
szene für außergewöhnliche Leistungen auf dem Gebiet
der betrieblichen und gesellschaftlichen Weiterbildung,
Bildungsförderung und Bildungsforschung auszuzeichnen.
Ziel ist es auch, Wissenschaft und Dialog auf diesem Gebiet
für eine humanere Arbeits- und Lebenswelt voranzutreiben,
an einer sinnvollen „Zukunft des Lernens“ mitzuwirken und
„schädliche Auswirkungen von Globalisierung und Macht-
missbrauch“ zu bekämpfen.
Foto: Pichler
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