Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 26

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wirtschaft + weiterbildung
10_2016
titelthema
zahlenden Studierenden in den Program-
men zur Erlangung eines Abschlusses in
Master of Business Administration mit
Angeboten zu versorgen, die wenigstens
eine Praxissuggestion bieten. Es wird
suggeriert, dass „gute Wissenschaft“
auch „gute Praxis“ sei. Scharmer steht
damit in der Tradition jener Ansätze, die
einen engen Nexus zwischen Wissen-
schaft, Wirtschaft, Politik und Religion
sehen. Man denke nur an die Forderung
nach einer Demokratisierung der Wis-
senschaft, die vielfältigen Überlegungen,
wie durch Aktionsforschung aus der Pra-
xis heraus Forschung betrieben werden
könne oder die These, dass sich in einem
sogenannten „Mode 2“ wissenschaftli-
che Forschung an die unterschiedlichsten
Orte verbreiten könne.
In letzter Konsequenz laufen die Überle-
gungen von Otto Scharmer – genauso wie
die von Peter Senge – auf eine Entdiffe-
renzierung von Wirtschaft, Wissenschaft,
Politik und Religion hinaus. Gerade die
soziologische Systemtheorie macht aber
darauf aufmerksam, dass die gesellschaft-
lichen Teilbereiche ganz eigene Logiken
entwickeln. Es ist gerade die Besonder-
heit der modernen Gesellschaft, dass
nicht wie im Mittelalter und in der frü-
hen Neuzeit die wirtschaftlichen, politi-
schen, religiösen und wissenschaftlichen
Orientierungen fusioniert werden, son-
dern in verschiedene Felder zerfallen.
Die Wirtschaft mit ihrer Orientierung an
Geld funktioniert ganz anders als die Wis-
senschaft mit ihrer Orientierung an der
Wahrheit, die Politik mit ihrer Orientie-
rung an Macht oder die Religion mit ihren
Angeboten zur Erklärung des Unerklärli-
chen. Der Begriff, mit dem diese Entwick-
lung der modernen Gesellschaft in der so-
ziologischen Systemtheorie beschrieben
wird, heißt funktionale Differenzierung.
Otto Scharmer negiert letztlich diese Dif-
ferenz in der Orientierung verschiedener
gesellschaftlicher Teilbereiche, indem er
einen Prozess imaginiert, in dem sich
Akteure ganz unterschiedlicher Felder
in einem fusionierten wirtschaftlichen,
politischen, religiösen und wissenschaft-
lichen Prozess eine gemeinsame Zukunft
erschaffen. Das gleiche Denkmodell, das
seiner Managementkonzeption zugrunde
liegt, nämlich eine fusionierte wirtschaft-
liche, politische, religiöse und wissen-
schaftliche Gesellschaft, soll seiner Mei-
nung nach auch dazu dienen, die Welt zu
retten. Das mag als Wunschtraum sympa-
thetisch sein, hat aber keinerlei Bezug zu
modernen Gesellschaften.
3. blinder Fleck:
Aufhebung der Interessenkonflikte
in einer Gemeinschaftsideologie
Typisch für Managementmoden ist, dass
die Bedeutung struktureller Interessen-
konflikte aus einer „Wir-retten-die-Welt-
Haltung“ heraus negiert wird. Bei der
Theorie U fällt auf, dass der Leser eines
Scharmer-Buchs oder der Teilnehmer
eines Veränderungsprozesses bei der
Darstellung der verschiedenen Phasen
zwar immer direkt als Einzelperson ange-
sprochen wird, die Formulierungen aber
schon auf das große Ganze abzielen. Otto
Scharmer betont, dass seine Überlegun-
gen „nicht in erster Linie auf individuelle
Führungspersonen“ zielen, sondern auf
die „systemische oder gemeinsame Füh-
rung“.
„Führung in unserem Jahrhundert“ heißt,
so Scharmer, die „Feldstrukturen der kol-
lektiven Aufmerksamkeit auf allen Ebe-
nen zu transformieren“. Die Auseinander-
setzung über Interessenkonflikte wird in
der Theorie U in einer Phase des „kom-
munikativen Handelns“ untergebracht.
Nach einer Phase des Downloadings,
in dem „autistische Systeme“ miteinan-
der „Höflichkeitsfloskeln“ austauschten,
folge die Phase der Debatte, in der „ad-
aptive Systeme“ sich mit „divergierenden
Sichtweisen“ konfrontierten.
Hier wird schon Scharmers Abneigung
gegen diese Gesprächsform deutlich,
wenn er sagt, dass das Wort „debattieren“
so viel heiße, wie den Gegner „mit Wor-
ten niederschlagen“. In Debatten verwen-
deten die Diskutanten „ihre Argumente
dazu, einen Gegner – sprich: jemanden
anderer Meinung – zu schlagen oder zu
übertrumpfen“. Die „Gesprächsqualität“
in Debatten ermögliche „die Wahrneh-
mung von Differenzen und unterschied-
lichen Perspektiven“, doch wenn es not-
wendig sei, „die Teammitglieder über ihre
Denkmuster und die ihrer Perspektive
zugrunde liegenden Annahmen nach-
denken“ zu lassen und „diese Annahmen
auch noch“ zu verändern, sei eine andere
Gesprächsqualität nötig.
Hier setzt jetzt die Forderung ein, dass
das „kommunikative Handeln“ über re-
flexives Erkunden im „Dialog“ stattfinden
solle. Die Gesprächsteilnehmer sollten
„von sich selbst als einem Teil des Gan-
zen her sprechen“ und dabei „vom Vertei-
digen zum Erkunden von Standpunkten“
kommen. Auf der Basis komme es da-
nach zum Presencing – zum „generativen
Fließen“. In der Gemeinschaft entstünde
eine „stille, kollektive Kreativität“, ein
„schöpferisches Fließen“, ein „authenti-
sches Selbst“. Es ist die Rede davon, ein
„gemeinsames Gefäß“ zu bilden, in dem
R
Buchtipp.
Claus Otto Schar-
mer: „Theorie U: Von der
Zukunft her führen: Presen-
cing als soziale Technik“,
Carl-Auer Verlag, Heidelberg
2007, 526 Seiten, 49 Euro,
inzwischen 4. Auflage (2015).
Buchtipp.
Claus Otto Schar-
mer und Katrin Käufer: „Von
der Zukunft her führen: Von
der Egosystem- zur Ökosys-
tem-Wirtschaft“, Carl-Auer
Verlag, Heidelberg 2014, 332
Seiten, 44 Euro.
Buchtipp.
Michael Wyrsch:
„Theorie U von Otto Scharmer
in der Praxis“, Grin Verlag,
Norderstedt 2013, 97 Sei-
ten, 44,99 Euro, (das ist die
Masterarbeit eines ZHAW-
Absolventen).
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