Wirtschaft und Weiterbildung 10/2016 - page 23

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zogenen Techniken übertragen auf den
Organisationskontext?“ Der Vorwurf hin­
ter der Frage: Scharmer vergesse beim
Thema „Change“ die Dynamik von Sys­
temen. Er habe zwar das Buch „Soziale
Systeme“ des Soziologen Niklas Luh­
mann im Literaturverzeichnis erwähnt,
berücksichtige in seiner Arbeit aber nicht,
dass innerpsychische Prozesse streng ge­
trennt werden müssten von den Kommu­
nikations- und Entscheidungsprozessen
im Unternehmen (mehr ab Seite 24).
Sind gesellschaftliche
Prozesse gezielt steuerbar?
Scharmer erklärte dazu, dass sich in der
„Theorie U“ die Grenzen zwischen Indi­
viduum, Team und Organisation auflös­
ten – nach demselben Muster, wie sich
im „Presencing“ die Trennung zwischen
Denken und Fühlen aufhebe. Die Art und
Weise, wie zum Beispiel die Achtsamkeit
erhöht werde, sei für ein Individuum oder
eine Organisation letztlich identisch. Indi­
viduen, Teams, Unternehmen und sogar
weltumspannende Organisationen entwi­
ckelten sich nach identischen Prinzipien.
Ein weiterer Einwand gegen Scharmer
bezog sich auf dessen Vorstellung, dass
Menschen, die Kontakt zum „Feld der Zu­
kunft“ gehabt hätten, Organisationen oder
gar gesellschaftliche Entwicklungen gezielt
zum Besseren hin steuern sollten. Die Idee,
Prozesse gezielt steuern zu können, haben
systemische Theoretiker wie Change-Prak­
tiker aufgrund der Unberechenbarkeit von
Individuen längst aufgegeben.
Immerhin verdankt die Organisations­
entwicklung der „Theorie U“ den Denk­
anstoß, dass es heute nicht mehr ausrei­
che, alle Stakeholder eines Unternehmens
an einem Veränderungsprozess zu betei­
ligen. Die Entwicklung der Wirtschaft
verlangt laut Querdenker Scharmer zu­
sätzlich mehr individuelle wie kollektive
Achtsamkeit und am besten einen Zugang
zum „sozialen Feld“, einem „gemein­
samen Bewusstseinsraum“, in dem die
künftigen Innovationen zu erahnen sind.
Dass das Bewusstsein vieler Menschen
sich in einem großen Moment verbinden
könne, wollte Systemik-Pionier Prof. Dr.
Fritz B. Simon auf dem „Carl-Auer-Labor“
gerne glauben. Er hatte dann aber doch
noch eine Frage. Wenn jemand während
einer Mediation Zugang zum sozialen
Feld habe, dann könne nur er alleine die­
sen inneren Prozess beobachten. Damit
es zu einem gemeinsamen „Bewusst­
seinsraum“ komme, müsse jeder über
sein inneres Erlebnis berichten.
Simons Frage lautete also: „Wie sieht die
Kommunikation aus, wenn das Bewusst­
sein mehrerer sich verbindet?“ Diese
Frage blieb im Verlauf der Veranstaltung
unbeantwortet. Klar ist aber: Die „Theo­
rie U“ sollte nach weiteren Möglichkeiten
suchen, ihr „soziales Feld“ zu beschrei­
ben. Zumindest auf der Ebene der Tools
kann die „Theorie U“ mit einem vorbild­
lichen, ausreichend gefüllten Werkzeug­
koffer glänzen. Die wichtigsten Tools sind
(
):
• Stakeholder Interview (eigene Arbeit
durch die Augen des Stakeholders
sehen)
• Dialogue Interview (andere zum Nach­
denken über sich selbst bringen)
• Shadowing (eine Person während der
Arbeit begleiten und daraus lernen)
• Sensing Journey (kleine Reisen zu un­
terschiedlichen Orten des Systems)
• „U“-Journaling (angeleitetes intuitives
Schreiben führt zu Reflexionsprozess)
• Case Clinics (Fallgeber präsentiert einer
Gruppe ein Anliegen und bittet um Lö­
sungsideen).
Bei dieser Gelegenheit sollten sich Orga­
nisationsentwickler daran erinnern, dass
Lawrence L. Lippitt bereits 1998 ein Buch
mit dem Titel „Preferred Futuring“ veröf­
fentlichte. Lippitts Botschaft lautete: Wer
eine brennende Vision von der Zukunft
hat, erzeugt automatisch die nötige Kraft,
sie zu erreichen. Nach 30 Jahren Erfah­
rung und Entwicklung baute Lippitt das
„Preferred Futuring“ zur „Whole Scale“-
Großgruppenmethode aus – noch heute
ein nützliches, ausgeklügeltes Werkzeug,
um Veränderungsenergie zu erzeugen.
Martin Pichler
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