wirtschaft und weiterbildung 7-8/2015 - page 20

titelthema
20
wirtschaft + weiterbildung
07/08_2015
winnen. In der Pädagogik will man Zeit
intelligent verlieren. Langatmige Wie­
derholungen sind schließlich die Mutter
jeder Pädagogik.
Geißler wundert sich auch, dass Zeit für
sehr viele Menschen gleich Geld ist. Für
ihn ist Zeit ein Nahrungsmittel – nämlich
süßer Honig. Geißler hat nichts dagegen,
dass wir Menschen insbesondere im Ar­
beitsprozess immer schneller arbeiten,
aber die gewonnene Zeit sollte nicht
dazu genutzt werden, noch mehr zu ar­
beiten. Sie sollte vielmehr dazu dienen,
eine Pause zu machen, das Leben so gut
es geht zu genießen („Honig“) und neue
Kräfte zu tanken. Geissler ruft letztlich
zu einer Art zivilem Ungehorsam auf.
Ein Berufstätiger muss nicht immer er­
reichbar sein und muss auch nicht jede
Sprosse auf der Karriereleiter erklimmen.
Solche Leute verdienen tendenziell weni­
ger Geld, aber sie sollten sich wohler füh­
len. Dass man sich solch eine Einstellung
leisten können muss, weiß der Autor, der
das Buch „Time is honey“ zusammen
mit seinem Sohn Jonas geschrieben hat,
genau. Beide fordern einen „klugen Um­
gang mit der Zeit“ und kein Armutsge­
lübte.
Wie kompliziert das für den Einzelnen
ist, muss genau analysiert werden, bevor
man etwas am Umgang mit der Zeit än­
dert. Karlheinz Geißler war lange Jahre
Professor für Wirtschaftspädagogik an
der Universität der Bundeswehr in Mün­
chen. Er weiß, wie man Ordnung in die
prinzipiell unordentliche Welt der Zeit
bringt und hat sie in folgende Bestand­
teile gegliedert:
Aufgabenzeit.
Zeitliche Anforderung,
die von der Art der Aufgabe herrührt,
die erledigt werden muss. Gibt es Zeit­
empfehlungen für Aufgaben, Fristen,
Abgabetermine, Ablaufpläne? Beispiel:
Ein Mitarbeitergespräch dauert minde­
stens 90 Minuten.
Organisationszeit.
Anforderungen, die
von formellen und informellen Orga­
nisationen (Arbeitgeber, Verein …)
gestellt werden. Welches Zeitverhalten
erwarten Vorgesetzte, Kollegen, Mit­
arbeiter? Kann und will der Einzelne
diese Erwartungen erfüllen? Gibt es
Spielräume für Zeitentscheidungen?
Eigenzeit.
Bedürfnisse, die man als In­
dividuum hat. Welche Eigenzeiten sind
mir heilig, weil sie meinen Energie­
haushalt aufstocken?
Sozialzeiten.
Anforderungen, die das
soziale Umfeld (Familie, Freunde …)
hat. Welche Sozialzeiten sind entlas­
tend und welche belastend?
Naturzeiten.
Zeitliche Spielräume, die
die Natur (Tag und Nacht …) und der
eigene Körper vorgibt (Chronobiolo­
gie). Wie ist meine Leistungsfähigkeit
über den Tag verteilt? Wie viel Schlaf
habe ich nötig und was passiert, wenn
ich zu wenig Schlaf bekomme?
Ressourcenzeiten.
Zeiten, die die Le­
bensenergie erhöhen. Auf welche Zeit­
erfahrung möchte eine Person nicht
verzichten, weil sie ihr Kraft gibt?
Wenn man Zeitprobleme mit diesem
Modell analysiert, nimmt man sehr viel
Rücksicht auf den Einzelnen und kann
dessen Zwangslagen besser erkennen
und berücksichtigen. Gleichzeitig sieht
man die vorhandenen Gestaltungsmög­
lichkeiten aber auch deutlicher. Anschlie­
ßend geht es darum, Zeit-Kompromisse
und eine individuelle Zeit-Balance fest­
zulegen. Die beiden Geißlers schenken
ihren Lesern eine Art „Sehhilfe für Zeit­
probleme“ und eine Arbeitshilfe, um das
eigene „Genug ist genug“ zu definieren.
04.
... wie klassisches
Coaching
auch heute noch sinnvoll
genutzt werden kann
05.
... welche Mittel Change-
Manager nutzen sollten, um
den Wandel zu
beschleunigen
06.
... wie
erfahrungsbasiertes
Lernen zum Mittelpunkt von
Förderprogrammen wird
Hoffnung am Morgen: „Irgend-
was ist immer nicht zu tun“
Als Kind erkrankte er an Kinderlähmung
und musste damit leben, dass all die an­
deren Menschen schneller unterwegs
waren als er mit seinen Krücken. Doch
irgendwann merkte Karlheinz A. Geißler,
dass die anderen auch nicht besser mit
dem Leben zurechtkamen als er und be­
gann sich dafür zu interessieren, warum
die Zeit den emsigen Menschen beson­
ders schnell davonläuft.
Geißler studierte Wirtschaftspädagogik
und entdeckte beim näheren Betrachten
anhand seines Studienfachs einen der
vielen Widersprüche rund um das Thema
„Zeit“: In der Wirtschaft will man Zeit ge­
Karlheinz A. Geißler,
Jonas Geißler:
Time is honey. Vom klugen Umgang
mit der Zeit,
Oekom Verlag, München 2015,
256 Seiten, 17,95 Euro
1...,10,11,12,13,14,15,16,17,18,19 21,22,23,24,25,26,27,28,29,30,...68
Powered by FlippingBook