PERSONALquarterly 4/2018 - page 8

8
SCHWERPUNKT
_INTERVIEW
PERSONALquarterly 04/18
projekten zur Verbesserung der (Re-)Integration von Menschen
mit Behinderung? Welche Ratschläge können Sie Unternehmen
geben?
Böhm:
Auf Basis unserer Kooperationsprojekte der letzten zehn
Jahre konnten wir sehen, dass Inklusion unabhängig von Land,
kulturellemKontext, Industrie oder Beruf gelingen kann, wenn
im Unternehmen ein echtes Interesse daran besteht. Wichtig
ist aus unserer Sicht die aktive Einbindung aller relevanten
Stakeholder, also u. a. des (Top-)Managements, der Mitbestim-
mung, der Führungskräfte und der Teams. Bei echter Inklusion
kommt es nur im ersten Schritt auf technische Anpassungen
und Barrierefreiheit an, viel entscheidender ist langfristig das
soziale Miteinander. Dafür müssen die Unternehmen sensibi-
lisiert werden. Oft ist viel guter Wille da, aber es fehlt mitunter
das Wissen, was vor Ort konkret zu tun ist (z. B. wie Meetings
mit Kollegen mit Seh- oder Hörbehinderung effektiv durch-
geführt werden können). Im Nachhinein zeigt sich dann oft,
dass notwendige Anpassungen (z. B. eine klare Agenda, das
Einhalten von Gesprächsregeln) allen nutzen und die Prozesse
insgesamt effektiver werden. Ein zentraler Ratschlag lautet
daher sicher, dass Inklusion in allen Unternehmen gelingen
und einen vielfältigen Nutzen stiften kann. Ausprobieren lohnt
sich! Wirklich nachhaltige Inklusionsprojekte basieren dabei
auch nicht nur auf CSR-Gedanken, sondern realisieren einen
Mehrwert für alle Beteiligten. Kooperationsprojekte mit der
Wissenschaft können helfen, diesen Nutzen noch klarer zu
beziffern und durch evidenzbasierte Interventionen zu ver-
größern.
PERSONALquarterly:
Welche Chancen und Risiken sehen Sie in der
Digitalisierung für die (Re-)Integration von Arbeitskräften in Ar-
beit und Gesellschaft? In welchen Branchen und Berufsfeldern
sehen Sie hier die größten Potenziale?
Böhm:
Die Digitalisierung wird alle Berufsfelder, Unternehmen
und Industrien in bisher nicht vorstellbarem Ausmaß verän-
dern. Bisher sehen wir erst die Anfänge und sind als Menschen
generell nicht gut im Abschätzen von exponentiellen Entwick-
lungen. Genau diesen werden wir aber durch die Kombina-
tion von unlimitierter Rechenpower, smarten Algorithmen,
weltweiter Vernetzung sowie Sammlung und Nutzung von
Big Data begegnen. In Bezug auf Menschen mit Behinderung
sehen wir schon heute, dass neue technologische Entwick-
lungen gerade für Menschen mit Sinnesbehinderungen große
Vorteile bieten (z. B. durch smarte Brillen, die Dinge selbst-
ständig identifizieren und sogar Gesichtsausdrücke von Ge-
sprächspartnern interpretieren können). Schon wenig später
werden auch Menschen mit physischen Behinderungen immer
stärker profitieren (bspw. durch Exoskelette oder gedankenge-
steuerte Gliedmaßen). Etwas weniger optimistisch bin ich hin-
sichtlich psychischer Behinderungen. Hier könnten durch die
Verdichtung von Arbeit und die zunehmende Bedeutung von
Selbststeuerung und Abgrenzungsverhalten sogar größere An-
forderungen auf die Betroffenen zukommen. Ferner könnte ein
immer stärkerer Wegfall von eher einfachen Tätigkeiten den
Druck auf den Arbeitsmarkt erhöhen und zu einer gewissen
Verdrängung von Menschen mit Behinderung führen. Hier ist
allerdings schon heute feststellbar, dass eher mittelqualifizierte
Tätigkeiten ohne persönliche Interaktion gefährdet sind (z. B.
in der Verwaltung), während sich z. B. Tätigkeiten im sozialen
Bereich stabiler entwickeln dürften (z. B. in der Kinderbetreu-
ung oder Pflege). Langfristig ist die Entwicklung heute nur sehr
schwer zu prognostizieren. Ich persönlich kann mir vorstellen,
dass es in einigen Jahrzehnten in Bezug auf den Arbeitsmarkt
keine Unterscheidung mehr zwischen Menschen mit und ohne
Behinderung geben wird. Auf der einen Seite werden viele
Behinderungen durch moderne Technologien komplett kom-
pensierbar sein, auf der anderen Seite werden alle Menschen
versuchen müssen, ihre komparativen Vorteile im Vergleich
zur immer effektiveren Technologien zu finden und zu nutzen
(Stichwort „Artificial Intelligence“). Es kann gut sein, dass wir
alle komplett neue Überlegungen hinsichtlich der Gestaltung
von Erwerbsarbeit, Freizeit und Sozialsystemen anstellen und
unsere Rolle als Menschen neu finden müssen.
„Inklusion kann in allen Unternehmen
unabhängig von kulturellem Kontext,
Industrie und Beruf gelingen und viel-
fältigen Nutzen stiften!“
Prof. Dr. Stephan Böhm
1,2,3,4,5,6,7 9,10,11,12,13,14,15,16,17,18,...60
Powered by FlippingBook